Ganz nah am Herzen einer jungen Frau

Bluegrass-Wunderkind Sarah Jarosz geht neue Wege

21. Juni 2024

Lesezeit: 4 Minute(n)

Als Sarah Jarosz 2017 ihren ersten Grammy bekam, war ihre alte Plattenfirma Sugar Hill gerade von Rounder geschluckt worden. Letzteres wurde 1970 als Indielabel gegründet von drei „Romantikern, die sich in Opposition zum Kapitalismus, zur programmatischen Starrheit der alten Linken und zu den eher doktrinären kulturellen Regeln des Folkrevivals selbst stellten“, wie Michael F. Scully in seinem Buch The Never-Ending Revival: Rounder Records and the Folk Alliance schrieb, und ist ein klangvoller Name unter Folkies. Indie ist allerdings relativ. „Follow the money“, wie es so schön heißt …
 Text: Martin Wimmer

Rounder Records gehört heute der riesigen Concord Music Group, die mit vier bis sechs Milliarden Dollar bewertet wird und selbst zu rund 90 Prozent im Besitz des Michigan Retirement Fund ist, der wiederum von der Investmentgesellschaft Barings gemanagt wird, die rund 380 Milliarden Dollar Vermögen verwaltet, selbst aber dem Versicherungskonzern Mass Mutual gehört, einem der umsatzstärksten Unternehmen der USA. So ist das, wenn man eine junge Künstlerin unterstützt und ihr neues Album kauft. So ist das, mit der Opposition zum Kapitalismus.

Man tut natürlich dennoch gut daran, Polaroid Lovers anzuhören. Geld ist ja nicht alles. Es geht immer noch um Musik. Und die hat sich sehr verändert beim ehemaligen Bluegrass-Wunderkind, das im Alter von zehn Jahren die Mandoline für sich entdeckte und mit sechzehn den ersten Plattenvertrag unterschrieb. Nach zwei eher experimentellen Alben lässt sie auf ihrem siebten Solowerk die Wurzeln ganz hinter sich und wagt ein hörbar auf kommerziellen Mainstream angelegtes Produkt. Das macht es für zwei Zielgruppen schwer: Nicht alle Jarosz-Fans der ersten Stunde werden diese Volte mitgehen, und Bluegrasspuristen werden den neuen Sound ohnehin nicht goutieren. Nicht etwa, weil dieser hypermodern elektronisch wäre, sondern im Gegenteil, weil Achtziger-Retro-Keyboards für viele auch heute noch eher gewöhnungsbedürftig sind. 

Unvoreingenommene mit offenen Ohren, die Jarosz nicht gegen eine Folie an Erwartungen abchecken, werden dagegen ein ganz anderes Album wahrnehmen. Da ist eine junge Frau, die nach ihrer Kindheit in Texas, dem Studium am Konservatorium in Boston und den ersten Berufsjahren in New York nun mit ihrem Ehemann nach Nashville gezogen ist. Auf dem Cover inszeniert sie sich selbstbewusst als urbane Mittdreißigerin in violettem Rollkragenpullover, orangem Hosenanzug und grasgrünen Pumps. Die Ästhetik ist die eines Hochglanz-Modemagazins, so weit weg von Country, Cowboys, Bergen und dem Albumtitel wie nur denkbar. Das setzt den Anspruch, und der wird von der Musikerin voll erfüllt.

Lösen wir uns also von den genretypischen Zuschreibungen und biografischem Storytelling. Was hören wir denn wirklich? Das Album setzt ein mit treibendem Heartland Rock, Autofahrmusik für Tom-Petty-Fans. Es folgt blubbernder Songwriterpop, nah an den späten Fleetwood Mac. Und geht weiter mit glitzernden Folkpopgitarren, nicht weit von den Bangles. Spätestens jetzt muss man einschieben, dass Jarosz mit ihrer Oktavmandoline macht, was viele Musikschaffende vor ihr machten: Sie eignet sich die dreißig, vierzig Jahre alte Musik der Elterngeneration an. Live covert sie oft britische Stars der späten Achtziger und Neunziger wie U2, Phil Collins und Massive Attack. Ihre große Kunst besteht darin, dass das Ergebnis dieser Anverwandlung tolle Americana ist.

„The Way It Is Now“: die offensichtlichste Annäherung an das aktuelle Nonplusultra des Erfolgs, Taylor Swift. Selbstreflexive Innenschau auf depressive Phasen, eine Verliebte zwischen Hoffen und Bangen. „Dying Ember“: eine moderne Ballade, wie sie auch Jazzcroonerinnen produzieren, die mal einen Sonntagmorgenausflug Richtung Country unternehmen, mit viel hallenden Gitarren und ein paar zu viel „Ooh-oohs“. In „Columbus & 89th“ präsentiert sich Jarosz am elegantesten als intellektuelle Songwriterin. Spürbar echte Erinnerung an den alten Heimatort Manhattan trägt die stille Nummer. Nach zwei unspektakuläreren Titeln spielt sie in „Days Can Turn Around“ ihre Stärken voll aus: glasklare Stimme, superentspannter Rhythmus, wunderbare Instrumentierung.

Sarah Jarosz

Foto: Josh Wool

„Was ich an einem Polaroid so liebe, ist, dass es etwas ganz Flüchtiges festhält.“

„Good At What I Do“ setzt noch einen hymnischen Akzent, bis mit dem in Keyboards badenden Ausflug nach Mexiko „Mezcal And Lime“ ein in sich rundes und rundum gelungenes Album endet.

In der gefälligen Produktion von Daniel Tashian steckt aber auch die Kehrseite dieses zeitgemäßen Indie-Folk-Pops, der sich in die in Coffeeshops millionenfach gehörten Spotify-Playlists mit Namen wie „Acoustic Covers“, „Chill Folk“ oder „Fresh Folk“ nahtlos einfügt: Ecken und Kanten, Überraschungsmomente fehlen. Gut hören kann man das schon, aber Hals über Kopf verknallen wird man sich halt auch nicht. Was besonders sichtbar wird im Vergleich zu Labelkollegin Sierra Ferrell, die fast zeitgleich ein erdiges, spielfreudiges Album vorlegt, in dem Old-Time Music, Honky-Tonk-Country und Bluegrass in perfekter Mischung aus Authentizität und Augenzwinkern begeistern.

Bleibt noch ein Blick auf den roten Faden der elf Songs. Jarosz selbst: „Was ich an einem Polaroid so liebe, ist, dass es etwas ganz Flüchtiges festhält, aber gleichzeitig diesen Moment verewigt. Deshalb ergab es Sinn als Titel für ein Album, in dem alle Lieder Schnappschüsse verschiedener Liebesgeschichten sind.“ Um skurrile Charaktere, Altersweisheiten, politisches Engagement, künstlerische Verrätselung oder clevere Wortspiele geht es hier bewusst nicht. Trotz einiger namhafter Mitwirkender beim Schreiben der Lieder wie Ruston Kelly, Natalie Hemby und Jon Randall bleiben die Miniaturen ganz nah am verletzten Herzen einer sympathischen jungen Frau, die ihren Platz in der Welt sucht. Wie vielen Hörenden der Ort, an dem sie künstlerisch dabei angekommen ist, zur Heimat wird, dürfte der Markt entscheiden. „Doktrinären kulturellen Regeln des Folk“ unterwirft Sarah Jarosz sich in Polaroid Lovers jedenfalls nicht, die Rounder-Gründer wären sicher stolz auf sie.

https://sarahjarosz.com

Aktuelles Album:

Cover: Sarah Jarosz »Polaroid Lovers«

Sarah Jarosz

Polaroid Lovers (Rounder Records, 2024)

Aufmacherbild:

Foto: Josh Wool

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