Audio mp3: »Griff Trio«, 7:18 min
So hat man Dudelsackmusik noch nicht gehört. Seit inzwischen mehr als zwanzig Jahren setzt die belgische Formation ganz neue Standards in der Bordunszene. Traditionelle Klänge verschmelzen mit zeitgenössischen Stilen zu einer faszinierenden Reise durch die Weltmusik.
Text: Erik Prochnow Foto: Karolina Maruszak, www.maruszak.photo
„Dudelsackmusik kann manchmal etwas langweilig und vorhersagbar sein“, weiß Rémi Decker. Und genau diese Erkenntnis spornte den belgischen Sackpfeifenspieler an, eine ganz eigene kreative Musik auf dem Instrument zu entwickeln. Gemeinsam mit seinen beiden Landsleuten Raphaël De Cock und Liesbet Marivoet bildet der 42-Jährige das vielleicht avantgardistischste Dudelsacktrio der Bordunszene. Gemeinsam mit Flöten, Percussion und vor allem polyfonem Gesang erschaffen die drei auf ihren Sackpfeifen eine unglaubliche Kraft. Mal klingen letztere wie eine Orgel eher mittelalterlich, dann jazzig oder hypnotisierend rhythmisch afrikanisch oder sie begleiten mit Obertönen oder Stopps à la Didgeridoo englisch-skandinavische Folkmelodien. „Egal was wir spielen, es ist immer eine Mischung aus allen möglichen Stilen und Genres“, beschreibt Decker die Musik des Griff Trios und fügt hinzu: „Um das ganze Potenzial des Dudelsacks auszuschöpfen, stehen wir dabei mit einem Fuß in der Vergangenheit und mit dem anderen in der Zukunft.“
Ihr Talent, durch die Weltgeschichte der Musik zu ziehen und unterschiedlichste Traditionen neu zu verbinden, wird besonders deutlich in ihrem virtuosen Flötenspiel oder ihrem berührenden polyfonen A-cappella-Gesang. Selbst traditionelle Stücke werden durch die Griff-Arrangements zeitlos. Am Beginn der Bandgeschichte im Jahr 2003 stand aber nicht die aktuelle Trioformation. „Angefangen haben wir als Sextett mit Gitarre, Akkordeon und Bass als Begleitung“, erinnert sich Decker. Die belgische Folkmusik war im Aufschwung, und das Ensemble tourte durch ganz Europa. Die Idee eines Trios kam dann per Zufall bei einem Konzert in Süditalien 2008. „Wir drei Piper hatten dort schon Urlaub gemacht, und der Flug unserer Musikerkollegen am Tag des Konzerts fiel aus. Also entschlossen wir uns, allein zu spielen“, erzählt Raphaël De Cock, neben Rémi Decker Gründungsmitglied der Band. Das Experiment klappte, und als die damalige Dritte im Bunde, Birgit Bornauw, vorschlug, ein Programm für die italienische Tradition der Weihnachtsdudelsackmusik zu entwickeln, war das Triokonzept geboren.
2010 folgte mit dem neuen Programm – nach bereits zwei Sextettalben – die erste Veröffentlichung als Trio. In der neuen Formation tourten sie nicht nur durch Italien, sondern spielten auch auf internationalen Festivals etwa in Zagreb oder dem tschechischen Strakonice, wo sie sogar im lokalen Dudelsackmuseum verewigt sind. Nach Bornauws familienbedingtem Ausstieg entstand ein Album mit traditionellen Songs aus der Wallonie und aus Flandern. Drittes Griff-Mitglied war damals Colin Deru. In der aktuellen Formation spielen Griff seit 2019. In dieser Zeit entstand auch ihr aktuelles, bislang komplexestes Album, Ephemera. Den Anstoß gab Landsmann Guido Piccard. „Wir waren für ein anderes Projekt im Gespräch, und er fragte mich nach der Stimmung unserer Instrumente. Einige Wochen später schickte er ein paar Songs für uns“, sagt Decker, der noch immer freudig erstaunt ist. „Zum ersten Mal schrieb jemand speziell für unser Trio.“ Aber Griff wären nicht Griff, wenn sie sich darauf ausruhen würden. „Musikschaffende sind kulturelle Nomaden, die immer nach Neuem Ausschau halten“, so der Musiker. Neben eigenen Kompositionen arrangierten sie für das Album daher auch einige traditionelle Stücke aus Finnland, Kroatien oder Belgien für ihre unterschiedlichen Dudelsäcke. Während Decker die französische Cornemuse spielt, intoniert Marivoet den belgischen Dudelsack und De Cock die irischen Uilleann Pipes. Das Ergebnis ist mitreißende Sackpfeifenmusik, die jegliches Genredenken spielend überwindet.
Die Leidenschaft für die Musik wurde allen drei bereits in die Wiege gelegt. So spielte Marivoets Vater ebenfalls Dudelsack. Deckers und De Cocks Eltern waren allerdings im Tanz zu Hause. Während De Cocks Vater Mitglied des Royal Ballet in Flandern war, tanzten Deckers Eltern aktiv in der wallonischen Folkszene. „Fast jedes Wochenende hatten sie einen Auftritt“, erinnert sich Decker. Bei einer ihrer Shows hörte er zum ersten Mal einen Dudelsack und verliebte sich in das Instrument. Decker: „Ich flehte meine Eltern an, Dudelsack spielen zu dürfen.“ Mit zehn schickten sie ihn zu einem Workshop und ein Jahr später erhielt er sein eigenes Instrument. Da es in den Neunzigern keine Lehrer gab, lernte er autodidaktisch und mit achtzehn war ihm klar, dass er Musiker werden wollte. Als er erfuhr, dass man am Konservatorium in Löwen Dudelsack studieren konnte, schrieb er sich ein. „Das Studium war jedoch klassisch ausgerichtet, womit ich überhaupt nichts anfangen konnte, da ich Folk machen wollte. Also blieb ich nur eine Woche und gründete Griff“, erzählt Decker.
„Wir stehen mit einem Fuß in der Vergangenheit und mit dem anderen in der Zukunft.“
Mit Raphaël De Cock fand er den idealen musikalischen Partner. „Mein Vater führte mich schon früh in die verschiedensten Traditionen und Stile der Folkmusik ein, auch in das Dudelsackspiel“, blickt De Cock auf seine musikalischen Anfänge zurück. Als er 1989 mit sechzehn eine Uilleann-Pipes-Aufnahme vom berühmten belgischen Dranouter-Festival hörte, verspürte er sofort das Verlangen, das Instrument zu erlernen. Tatsächlich machte er einen Dudelsackbauer ausfindig, und seine Großmutter kaufte ihm das Instrument. „Es war der Beginn einer autodidaktischen kreativen Suche durch Stile, Harmonie, Klänge und Techniken“, sagt der heute 52-Jährige. Obwohl die Musik seine große Leidenschaft ist, folgte De Cock beruflich zunächst seinem anderen Talent, der Biologie. Mit dem Erwerb eines Doktortitels zum Thema der „Ökologie der Glühwürmchen“ 2008 wechselte er allerdings die Seiten. „Als Doktorand arbeitet man kaum noch in der Natur, sondern nur noch im Büro, um Berichte zu verfassen. Ich war unglücklich und machte mein Hobby zum Beruf und meinen Beruf zum Hobby“, sagt der vielseitige Multiinstrumentalist. Neben seinen unzähligen Projekten etwa als Mitglied in der herausragenden Vokalgruppe Voxtra, dem Folkduo Edra oder dem Musikerkollektiv Toasaves veranstaltet er in Zusammenarbeit mit dem belgischen Label Muziekpublique regelmäßig im Juni sogenannte Glühwürmchen-Sessions in der freien Natur.
Auch Decker kann als Musiker nicht nur vom Griff Trio leben. So spielt er unter anderem in dem wallonischen Folkduo Decker-MalempréS Gitarre und begleitet vor allem in Liveshows Animationsfilme mit Musik und Klängen. Trotz dieser kreativen Projekte hängt jedoch sein Herz zuallererst an Griff. Und Decker hat mit seinen musikalischen Partnern bereits ein neues Programm entwickelt. „Folk wird traditionell mit Tanzmusik verbunden, und nach über zwanzig Jahren arbeiten wir gerade tatsächlich an einem Programm mit eigenen Songs für den Bal Folk“, ist Decker begeistert und fügt lächelnd hinzu: „Anscheinend brauchten wir 22 Jahre Erfahrung, um Tanzmusik im Griff-Stil spielen zu können“, kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ob es das Programm nur live oder auch als Aufnahme geben wird, ist sich das Trio noch nicht sicher. Auf alle Fälle wird es dem Namen ihres Ensembles entsprechen, der weder im Flämischen noch im Französischen eine Bedeutung hat. Rémi Decker: „Wir haben ihn dennoch gewählt, weil er wie im Deutschen knackig und scharf klingt, eben griffig und kreativ.“
Aktuelles Album:
Ephemera (Eigenverlag, 2020)







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