„Es ist die Stimme!“ So begann die Rezension zu Kim Carnies erstem Soloalbum And So We Gather in folker #4.22 und sprach im Folgenden von „einer besonderen Mischung aus samtenen und leicht rauchigen Tönen, gepaart mit ein wenig Jungmädchenhaftigkeit“. Nicht nur diese Zeitschrift ist fasziniert von Carnies Stimme. Die Beschreibungen reichen von „weich, aber dennoch gewaltig“ bis hin zu poetischem Lob wie: „Ihr komplexer Gesang ist von faszinierender Verletzlichkeit.“ Aber wer ist die Frau mit dieser außergewöhnlichen Stimme?
Text: Mike Kamp; Fotos: Elly Lucas
Kim Carnie wuchs in Oban auf, einer Kleinstadt an der schottischen Westküste, die von einem nicht fertiggestellten Nachbau des römischen Kolosseums überragt wird. Traditionelle Musik war und ist im Ort und im Umland stark vertreten. Daher war es fast unausweichlich, dass Carnie mit den Traditionen der Westküste in Berührung kam. Überdies gab es bereits in der Grundschule Gälischunterricht. „Die Lehrerin, die ich fast die ganze Grundschulzeit hatte, stammte von der Insel Barra. Ihre Mutter kam oft von Barra nach Oban und brachte uns Lieder und Geschichten bei und schrieb Theaterstücke, die wir aufführen konnten. Sie machten die Grundschule und das Lernen von Kultur und Sprache zu einer schönen Sache“, erzählt sie. Carnie besuchte auch die Sgoil Chiùil Na Gàidhealtachd, ein Exzellenzzentrum für traditionelle Musik in Plockton.
Ihre weitere Laufbahn in Richtung professionelle Musikerin beschreibt sie mit etwas Understatement als „einen nicht gerade gewöhnlichen Weg“. Lassen wir sie selbst erzählen: „Ich studierte zuerst schottisches Recht an der Universität und schloss mit einem Prädikatsexamen ab. Kurz darauf bewarb ich mich bei der BBC als Moderatorin für das Kinderfernsehen und bekam die Stelle. Ich blieb dort für zwei Jahre und arbeitete für eine Sendung, die ich schon als Kind angeschaut hatte. Als ich dort war, lief die Serie gerade aus. Mit diesem Job hatte ich mir einen Kindheitstraum erfüllt. Ich beschloss dann, die BBC zu verlassen, um Musik zu machen. 2019 hatte ich aber noch keinen einzigen Auftritt im Terminkalender. Ich glaube, meine Familie war besorgter über das Risiko als ich selbst. Aber ich dachte, warum nicht? Zu diesem Zeitpunkt wusste ich doch, dass ich ein paar Optionen hatte, auf die ich zurückgreifen könnte, wenn es nicht klappen würde.“
Und siehe da, gegen Ende jenes Jahres fragte ein gewisser Gary Innes an, ob sie es sich vorstellen könnte, bei der Gruppe Mànran als Sängerin einzusteigen. „Das waren zuerst wirklich lustige Auftritte in den Highlands. Da ich schon mit einigen Mitgliedern von Garys Band zusammengearbeitet hatte, dachten sie wohl, dass ich gut zu ihnen passen würde. Ich liebe es wirklich, mit Mànran zu spielen. Es ist eine völlig andere Erfahrung als meine Soloarbeit. Die Musik ist anders, die Energie ist anders. Wenn ich meine eigene Band mit Mànran vergleiche, fühlt sich das wie zwei völlig verschiedene Jobs an. Ich habe das Glück, beides zu haben und von beidem etwas Unterschiedliches zurückzubekommen.“
Bereits vor dem Einstieg bei Mànran war Carnie solistisch aktiv gewesen. 2017 hatte sie ihre Debüt-EP In Her Company rausgebracht, Soundtracks für Computerspiele geschrieben und war an der Musik für Netflix-Serien beteiligt gewesen. Auf dem Celtic Connections Festival 2018 hatte sie ein hochklassig besetztes gälisches Konzert mit dem BBC Scottish Symphony Orchestra bestritten. Unter anderem auch dabei: Capercaillies Karen Matheson, eine Art Vorbild für sie. „Ich habe Capercaillie schon immer geliebt. Karen und Donald kommen aus der Gegend, aus der auch ich stamme – das machte es noch aufregender mitzubekommen, dass eine gälische Band weltweit unterwegs ist.“
Aber dann kam der Lockdown! „Es war vielleicht wirklich ein schlechtes Timing wegen der Pandemie“, gesteht die Sängerin, „aber ich würde den etwas ungewöhnlichen Weg, den ich genommen habe, um hierherzukommen, nicht ändern. Ich liebe die akademische Welt und konnte mich in meinem Jurastudium selbst verwirklichen. Ich liebe das Moderieren von TV-Sendungen und konnte mir einen Kindheitstraum erfüllen. Und jetzt tue ich das, was ich am meisten liebe!“
Nämlich neben der Arbeit mit Mànran (und dem zeitlich etwas vernachlässigten Musikkollektiv Staran, siehe auch folker #3.23) vor allem solo tätig sein. 2022 erschien dann And So We Gather, produziert vom erwähnten Donald Shaw von Capercaillie, das mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ebenso ausgezeichnet wurde wie als „Album des Jahres“ bei den Scots Trad Music Awards.
All das wurde übertroffen von ihrem ausgesprochen nachhaltigen Coming-out im mittlerweile mehrfach preisgekrönten Film Kim Carnie Out Loud, wo sie nicht nur von ihren eigenen Erfahrungen spricht, sondern auch weltweit Menschen interviewt, die gleichgeschlechtlich lieben. Die Probleme, mit denen andere dabei konfrontiert sind, zeigten Carnie, dass sie eigentlich in einem ziemlich privilegierten Teil der Welt lebt, auch wenn es versteckte Beziehungen seit der Schule in Plockton und viele Jahre brauchte, bevor sie sich gegenüber Familie und Freunden erfolgreich und erfreulich outen konnte.
„Meines Wissens gibt es keine gälischen Lieder über gleichgeschlechtliche Liebe.“
„Ich vermute, im Prinzip war es die Angst vor Enttäuschung und Ablehnung“, erklärt sie. „Und auch die Angst, Opfer von verbaler und körperlicher Gewalt zu werden, die wir immer noch zu oft erleben.“ Aber Carnie versteht auch den kulturellen Hintergrund ihrer Heimat. „Es ist klar, dass die ältere Generation das Coming-out im Allgemeinen nicht sonderlich akzeptiert. Als sie jünger waren, waren gleichgeschlechtliche Beziehungen illegal. Die queere Gemeinschaft lebte weitgehend im Verborgenen und genoss nicht dieselben Rechte und denselben Schutz. Sie wurden sehr schlecht behandelt. Für die älteren Generationen ist es daher schwieriger, ihre Vorurteile und Meinungen zu ändern. Die Verknüpfung dieser beiden Dinge – unser Respekt und unser Vertrauen gegenüber der älteren Generation in unserer Musikkultur und das Coming-out – macht die Sache ein wenig kompliziert. Meines Wissens gibt es keine gälischen Lieder über gleichgeschlechtliche Liebe.“
Insgesamt zieht Kim Carnie aber eine positive Bilanz der aufregenden letzten Jahre. „Die Menschen in der traditionellen Musikszene in Schottland sind nach dem Coming-out unglaublich nett zu mir gewesen. Ich habe das Gefühl, dass ich Teil einer Community bin, die mich sehr unterstützt.“
Das Jahr 2025 wird Kim Carnies Jahr in Deutschland sein. Geplant sind eine vierwöchige Tour mit Mànran sowie drei Wochen mit ihrer eigenen Band. Auf beide Touren freut sie sich ungemein.
Aktuelles Album:
And So We Gather (Cárn Records, 2022)
Albumlink: www.kimcarnie.bandcamp.com/album/and-so-we-gather
Videolinks:
„Murt Na Ceapaich“ Kim Carnie featuring Julie Fowlis, Kathleen MacInnes: www.youtube.com/watch?v=cJZZz6DOvvY
Trailer zu Kim Carnie Out Loud: www.youtube.com/watch?v=-MQLpd_Rycw
0 Kommentare