Spricht man über die Musik des Balkan, kommt vielen neben Blasmusik und der Musik der Roma als eine der ersten Assoziationen Klezmer in den Sinn. Viele Künstlerinnen, Künstler und Bands vor allem außerhalb der Region und nichtjüdischer Herkunft, die sich dem musikalischen Spektrum des Balkan verschrieben haben, schließen Klezmer in ihr Repertoire mit ein. Auf welchen Zusammenhängen beruht diese Verbindung? Und wie steht es heutzutage mit der Klezmermusik auf dem Balkan selbst?.
Text: Matti Goldschmidt
Auch wenn in dieser folker-Ausgabe bereits an anderer Stelle erwähnt wurde, was in geografischer Hinsicht unter dem Begriff „Balkan“ verstanden werden könnte, sollen hier zum besseren Überblick doch noch einmal die Länder erwähnt sein, die nach der politischen Landkarte des 21. Jahrhunderts diesem Gebiet zugeordnet werden könnten. „Könnten“, da für manche die Grenzen zu weit gezogen werden, für andere wiederum nicht weit genug. Denn bekanntlich existieren Stimmen, die den Balkan schon gleich hinter Wien anfangen lassen. Beginnen wir also konservativ mit Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Serbien, Rumänien, Bulgarien, Nordmazedonien, Albanien und dem Kosovo. Eher dürften sich die Geister streiten, ob Gebiete wie der südwestliche Teil der Ukraine (Transkarpatien), die Slowakei, Ungarn, Moldawien, Griechenland oder der europäische Teil der Türkei dazugehören.
»Die Musik der Klezmorim war im Wesentlichen Tanzmusik und fester Bestandteil jüdischer Hochzeiten.«
Jüdische und ruthenische Musiker in der Region des Werezkyj-Passes, heutige Westukraine, 1895. Fotograf unbekannt.
Die meisten der genannten Länder existierten vor wenigen Hunderten von Jahren weder in ihren heutigen Grenzen, mitunter nicht einmal unter ihren heutigen Namen. Diese Gebiete teilten sich vielmehr die Großmächte Österreich, Russland sowie das Osmanische Reich auf, wobei sich die Grenzen im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verschoben. Nicht selten dauerte es viele Jahre, bis die Meldung in die letzten Ecken kleinerer Ortschaften kam, dass sie ohne viel eigenes Zutun nun zu einem anderen Herrscherhaus gehörten. Zumindest wurde dadurch die kulturelle Entwicklung in diesen Ortschaften kaum unterbrochen.
Das Wort Klezmer, mitunter auch als „Kleizmer“ transkribiert, ist eine Zusammensetzung aus den beiden hebräischen Worten cli (כלי) für „Werkzeug“ oder „Instrument“ und zemer (זמר) für „Lied“ oder „Melodie“. Die Musiker dieses Genres wurden „Klezmorim“ genannt (der hebräische Plural des Wortes klezmor), die anderweitig benutzte Bezeichnung „Musikant“ wurde als derogativ empfunden. Als musikalische Zentren dieses Musikstils galten um das Jahr 1700 die Städte Wilna (Vilnius, heute Litauen), Lemberg (Lwiw, heute Ukraine) und Jassy (Iași, heute Rumänien). Der soziale Status dieser Musiker war nicht sehr geschätzt, sie galten eher als musikalische Umherziehende und Nichtsesshafte. Ihre Musik war im Wesentlichen Tanzmusik und seit einigen Jahrhunderten ein notwendiger und somit fester Bestandteil jüdischer Hochzeiten. Mit dem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung im Siedlungsrayon des Zarenreiches („Pale of Settlement“) stieg auch die Popularität, auf jeden Fall die Verbreitung der Klezmermusik. Die wichtigsten Instrumente waren die Violine sowie das Hackbrett oder die Zimbel. Die heute als „typisch jüdisch“ angesehene Klarinette kam erst vor etwa hundertfünfzig Jahren dazu, als die ersten jüdischen Soldaten diese von den zaristischen Militärorchestern mit nach Hause brachten. Alsbald erhielten Juden die Erlaubnis, auch vor nichtjüdischem Publikum spielen zu dürfen (im Wesentlichen wiederum auf Hochzeiten), was in kürzester Zeit nicht nur zu einer Vermischung rein jüdischer und lokaler nichtjüdischer Musikrichtungen führte, sondern auch einen Austausch jüdischer und nichtjüdischer Musiker nach sich zog, vor allem mit Angehörigen der Roma.
Wesentlich scheint zu sein, dass es nicht die jeweils lokal dominierende jüdische Musik war, die die jüdischen Feierlichkeiten, zu denen aufgespielt wurde, und vor allem die dazu gehörigen Tänze formte, vielmehr waren es die Tänze des nichtjüdischen Umfeldes. Da es in der Regel praktisch keine religions- oder nationsübergreifenden Festlichkeiten gab, entwickelte sich im jüdischen Bereich innerhalb der regional üblichen Tänze eine Eigendynamik, aus der wir heute „typisch jüdische“ Tanzkombinationen zu erkennen meinen. Bezeichnungen wie „Bulgar“ oder „Sîrba“ lassen ohne Zweifel auf die Region des Ursprungs schließen, auch wenn die heute in jüdischen Kreisen typischen Schrittmuster mit dem „Original“ von vor drei-, vierhundert Jahren nicht mehr allzu viel zu tun haben. Insbesondere im Fall der typischen israelischen Hora, in der heute keine Rumänin und kein Moldawier mehr die ihm bekannten Schrittkombinationen erkennen würde. Bliebe letztlich zu erwähnen, dass die Begriffe „Bulgar“ und „Sîrba“ selbst von Fachleuten immer wieder nahezu beliebig ausgetauscht und somit zu eigentlichen Synonymen werden.
Im Gegensatz zu den Tänzen hatte sich allerdings die Musik wenig verändert. Die Geschichte von Marlene „Cookie“ Segelstein, Violinistin des von ihr gegründeten Trios Veretski Pass, mag prototypisch sein. Ihre Eltern emigrierten 1948 aus der Oblast Transkarpatien (Ruthenien) in die USA aus einer Region, die sich im Laufe der Geschichte immer wieder mit neuen territorialen Ansprüchen konfrontiert gesehen hatte (Österreich, Ungarn, Slowakei) und schließlich 1946 von der Sowjetunion annektiert worden war. Neben der ukrainischen Bevölkerung lebten dort auch Menschen ungarischer, rumänischer oder jüdischer Herkunft. Segelstein selbst wurde 1958 in Kansas City als Amerikanerin erster Generation geboren. Zu Hause wurde Jiddisch und Ungarisch gesprochen, säkulare und sogenannte emanzipierte amerikanische Jüdinnen und Juden wurden als „nicht echt“ bezeichnet. Segelsteins Eltern betrachteten Klezmorim eher als unerwünschte Gäste, die sich nicht wuschen und darüber hinaus noch etwas stehlen könnten. Nichtdestotrotz fühlte sich die an klassischer Violine und Bratsche Ausgebildete zu der Musik ihrer osteuropäischen Vorfahren hingezogen, ihrer anerzogenen Jiddischkeit konnte sie letztlich nicht entkommen. In einem 2007 in Krakau geführten Interview erzählte Segelstein, dass zu ihrer eigenen Überraschung die von ihr präsentierte „jüdische Musik“ von ihrem US-amerikanischen jüdischen Publikum gar nicht als jüdisch empfunden würde. Sie klang nun einmal wie die Musik aus den Karpaten.
Klezmorim, Ukraine, ca. 1925.
Foto: Menakhem Kipnis, YIVO Encyclopedia
»Die als ‚typisch jüdisch‘ angesehene Klarinette brachten erst vor etwa hundertfünfzig Jahren jüdischen Soldaten von den zaristischen Militärorchestern mit nach Hause.«
Vor allem in den Ländern Österreich-Ungarns unterlag die jüdische Bevölkerung im 19. Jahrhundert einem Assimilierungsprozess, der sich nicht nur sprachlich, sondern auch auf andere kulturelle Eckpfeiler auswirkte. Das Gros der Juden und Jüdinnen lebte im polnisch-, ungarisch- und rumänischsprachigen Raum, während sich im deutschsprachigen Teil des Habsburgerreiches alles auf Wien konzentrierte. Für die meisten ersetzte Deutsch Jiddisch als die Lingua franca und bisherige Diskriminierungen wie das Niederlassungsverbot in bestimmten Regionen oder steuerliche Sonderregelungen bis hin zur Beschränkung auf einige wenige Berufssparten wurden sukzessive aufgehoben. Dies ermöglichte zumindest in den Zentren des Landes die Assimilation und Emanzipation der jüdischen Bevölkerung. Mit neuen Bildungsmöglichkeiten verlor auch die traditionelle jüdische Musik ihr bis dahin herrschendes kulturelles Monopol. Im Gegensatz zu einem sich säkularisierenden Judentum blieb in ländlichen Bereichen, vor allem im Norden und Nordosten des Reiches, die jüdische Bevölkerung orthodox und hielt an ihren kulturellen Riten fest. Bis allerdings der Wahnsinn einer deutsch-arischen Rassismusideologie dem Ganzen ein Ende bereitete. Wer überlebte, wanderte 1945 und in den Jahren danach entweder nach Palästina oder hauptsächlich in die USA aus.
Die ehemals jüdischen Zentren existierten nach 1945 nicht mehr. Zum Vergleich: 1897 waren noch 40 Prozent der Bevölkerung Wilnas jüdisch. In Lemberg waren es 1931 32 Prozent, um 1900 in Jassy über 50 Prozent, in Thessaloniki etwa 48 Prozent (der Stadt, die auch das „Jerusalem des Balkans“ genannt wurde und in der statt Jiddisch Ladino gesprochen wurde). Mit diesem plötzlichen Schwund an jüdischer Bevölkerung starben in diesen Gebieten nicht nur die jiddische (und ladinische) Sprache, sondern neben dem Theater vor allem auch die Musik.
Wenn nichtdestotrotz viel als jüdisch empfundenes Material in traditionellen musikalischen nichtjüdischen Zirkeln des Balkans überlebte – einfach, weil es letztlich nahezu identisch war –, so fehlte doch ein gewisses Element, dass zumindest im folkloristischen Bereich eine Musik jüdisch macht: Es sind die besonders über die Geige und die Klarinette erzeugten Geräusche des Stöhnens, Krächzens oder auch Lachens, die höchstwahrscheinlich den charakteristischen Gesangsornamenten eines Chasan, des jüdischen Vorbeters und -sängers, entlehnt sind. Es mögen diese minimalistischen Elemente sein, die den jüdischen Klezmer des Balkan von der Musik der Roma oder der rumänischer oder moldawischer Herkunft unterscheidet.
Wer also im 21. Jahrhundert jüdische Musik auf dem Balkan, gegebenenfalls mit den genannten Einschränkungen, sucht, muss – schwarz-weiß gesprochen – auf nichtjüdische Musizierende zurückgreifen. Andererseits jedoch ist von Juden und Jüdinnen gespielte jüdische Musik des Balkan zumindest in Teilen durch die in den USA entfachte Wiederbelebung des Klezmer ab etwa 1970 ebendort noch zu finden.
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