Musiktherapie und Musikausbildung – Zwei Fachleute im Gespräch (1)

Der Musiktherapeut Lutz Neugebauer

19. März 2025

Lesezeit: 7 Minute(n)

Professor Lutz Neugebauer gilt als einer der führenden Experten der Musiktherapie. Der Vorsitzende der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft leitet auch das Nordoff-Robbins Zentrum in Witten, wo der selbst als Therapeut aktiv ist. Im folker erklärt er, warum die Volksgesundheit von der Musik abhängt.

Interview: Erik Prochnow

Wie bewusst geht die Musikbranche mit dem Thema Gesundheit um?

Es ist wie in der Normalbevölkerung. Das Thema wird dann wichtig, wenn die Gesundheit nicht mehr da ist. In der öffentlichen Wahrnehmung sind eher ökologische Themen wie die CO2-Kompensation von Bedeutung.

Gibt es überhaupt kein Bewusstsein für die Frage der Gesundheit?

Doch, vor allem unter professionellen Musikschaffenden hat sich das seit der Coronapandemie verändert. So ist das Thema „Mental Health“ in der Veranstaltungsbranche inzwischen sehr präsent. Auch der Umgang mit Substanzmissbrauch wie etwa Alkohol oder Beruhigungsmitteln hat sich gewandelt. Gehörte das in den Siebzigerjahren noch zum normalen Umgang mit Stress und galt als Inspiration für Kreativität, besonders in der Rock-’n’-Roll-Szene, geht man heute lieber vier Stunden ins Fitnessstudio. Für eine generelle Musikergesundheit gibt es aber kein echtes Bewusstsein. Wer von der Musik leben will, steht unter enormen Druck. Dass man da zu Hilfsmitteln greift, legal oder illegal, liegt auf der Hand. Es wird einfach nicht als Problem gesehen, dass man leicht in eine Suchterkrankung rutschen kann, körperlich und seelisch – und wenn es passiert, wird es verschwiegen.

Lutz Neugebauer

Foto: Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft

„Wir brauchen in der Politik ein ressortübergreifendes Denken“

Aber die Forschung wäre doch gerade in der Musiktherapie sinnvoll?

Absolut, sie ist notwendig und richtig. Aber keiner finanziert sie. Grund dafür ist nämlich noch ein anderes Problem. Das Diktum der Evidenzbasierung ist aus der Medikamentenforschung abgeleitet. Die verlangt Vergleichsgruppen, die ein Placebo erhalten, um Resultate genau messen zu können. Das ist in der Musik- genauso wie in der Gesprächstherapie aber nicht so einfach möglich. Auch die Medien sind da keine Unterstützung. Sie übertragen ebenfalls das Medikamentendenken auf die Musik und fragen danach, wie sie denn genau wirke.

Was macht Musik denn dann so wichtig für die Gesundheit?

Das Wesentliche ist die Beziehung. Heilsam ist das soziale Miteinander, das jenseits der Sprache wirkt. Das Beziehungselement wird in der Musiktherapie gezielt eingesetzt, um einen Leidenszusammenhang schneller aufzulösen als das im Normallfall ohne eine professionelle Begleitung passiert.

Weshalb spricht man kaum darüber in der Öffentlichkeit?

Weil sich weder Musikschaffende noch Hörende dafür stark machen. Musik ist ein entscheidender Bestandteil der Kultur, der für den Zusammenhalt und damit auch für die Gesundheit wichtig ist. Eine aktuelle Studie der Techniker Krankenkasse zum Thema Einsamkeit macht das große Defizit der Musikbranche deutlich. Als ein wichtiges Mittel werden etwa gemeinsame Spaziergänge vorgeschlagen. Warum wird nicht der regelmäßige Besuch der Oper oder die Mitgliedschaft in einem Chor gepriesen? Gerade durch das gemeinsame Musizieren entstehen soziale Kontakte und Bindungen durch gemeinsame Erfahrungen wie einen vereinenden Klang. Es wirkt also nicht nur die Musik selbst, sondern das soziale Erlebnis. Dieses Bewusstsein muss gestärkt werden. Bislang wird Musik aber als nette Unterhaltung und nicht als existenziell wichtig angesehen. Dabei hat Bundestagspräsident Norbert Lammert immer betont, dass Kultur das ist, was Gesellschaft im Inneren zusammenhält. Innenminister Otto Schily ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen. Er hat gesagt, dass die Abschaffung der Musikschulen die innere Sicherheit gefährde. Und ich ergänze, dass es auch die Volksgesundheit gefährdet. Doch wenn man sich die heutigen Wahlprogramme anschaut, fehlen die Musik und ihr gesundheitlicher sowie sozialer Aspekt.

Aber Musik ist doch allgegenwärtig und gerade für die Kultur wichtig. Weshalb wird sie dann von der Politik nicht hervorgehoben?

Ich denke, das hat etwas mit dem Musikerleben und Hörverhalten zu tun, das sich gesellschaftlich stark gewandelt hat. Heute läuft Musik eher nebenbei im Hintergrund und man widmet sich ihr nicht mehr, außer vielleicht im Konzert. Meine Eltern haben noch jeden Sonntagvormittag eine Schallplatte aufgelegt. Das war eine heilige halbe Stunde, und wir durften sie nicht stören, konnten aber mithören. Als Kinder wussten wir, dass diese Ruhepunkte etwas Wichtiges waren. Wie lange verweilt heute jemand auf einer Spotify-Nummer, bevor zur nächsten weitergeklickt wird?

In der Schule ist zudem der Musikunterricht der erste, der gestrichen wird.

Genau. Aber Musik ist Bildung. Dazu gehört mehr als MINT – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Wer heute gut durchs Leben kommen will, muss auch Kulturtechniken beherrschen. Bereits in den Neunzigerjahren hat Hans Günther Bastian in einer Langzeitstudie gezeigt, dass die Lernerfolge von Kindern, die intensiven Musikunterricht genossen, besser waren, obwohl die Fachunterrichte dafür abgespeckt wurden. Leider ist die Presse dann wieder dem Medikamentengedanken gefolgt und hat getitelt, dass Musik schlau mache. Musik fördert aber nicht unmittelbar die Intelligenz wie ein Medikament. Sie fördert den sozialen Zusammenhalt, die Lernbereitschaft, die Aufmerksamkeit – alles Fähigkeiten, die wir in den Schulen benötigen, die aber in der normalen Lernumgebung schwierig sind. Wie lernt man ohne schmerzhafte Erfahrungen? Da werden die Potenziale der Musik völlig unterschätzt.

Lehrende sollten also die Musik wichtiger nehmen?

Das fällt aber oft schwer. In einer Fortbildung für Lehrer zu hyperaktiven Kindern wurde mir mehrfach gesagt, dass sie doch mit Achtklässlern nicht Lieder singen könnten. Aber warum nicht? Chris Martin von Coldplay singt doch gerade für Achtklässler, und das finden alle cool. Einem Lehrer habe ich daraufhin vorgeschlagen, selbst eine Studie zu machen und während der Pausenaufsicht zur Gitarre zu singen. Er sollte schauen, wie viele Konflikte es dann noch gäbe. Nach einem halben Jahr schrieb er mir, dass sie weniger Unfälle in den Pausen hätten und die Kinder, die sonst problematisch seien, gerne kommen würden und mitsängen. Solche Angebote müssen sich in das Bildungssystem einschleichen.

Gibt es die denn schon?

Ja, ein begeisterndes Projekt des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf ist zum Beispiel die SingPause. Da werden seit 2006 in Grundschulen ausgebildete Sänger und Sängerinnen eingestellt, die den normalen Unterricht für zwanzig Minuten unterbrechen, um mit den Kindern mithilfe der Ward-Methode gemeinsam zu singen. Die Kinder lernen aber nicht nur ein Liedrepertoire, das sie am Ende des Schuljahres auch aufführen. Sie arbeiten in den anderen Fächern viel aufmerksamer, leichter sowie mit mehr Freude, und es stärkt die sozialen Fähigkeiten. Auch in Waldorfschulen gehört Musik schon immer zum Lehrkonzept. Dort beginnt man den Unterricht mit einem rhythmischen Teil. Ich fordere daher, dass jede Lehrerin, jeder Erzieher mindestens fünf Akkorde auf der Gitarre beherrschen muss, und die Schulen sollten genau wie beim Sport für Musikschaffende mit entsprechender Ausbildung geöffnet werden, die mit den Kindern musizieren und singen.

Würde damit nicht auch die Musiktherapie aufgewertet?

Ich denke schon. Gerade für Menschen, die keinen Zugang zu Gesprächstherapien finden wie Schlaganfall- oder Demenzpatienten oder Menschen, die nie Sprache lernen konnten – wie Kinder mit Entwicklungsstörungen oder ererbten Behinderungen –, wäre die Musiktherapie wie andere erlebnisorientierte Methoden das Mittel der Wahl. Da sie unmittelbare Kommunikationserfahrungen vermitteln, erleben die Patientinnen und Patienten, dass sie in ihrer Not gehört werden. Zum Beispiel habe ich einer Frau empfohlen, dass sie mit ihrem Mann, der nicht mehr sprechen konnte, im Alltag singen sollte. Erst war sie skeptisch, aber dann hat sie sich darauf eingelassen, und jetzt singen sie ihre Unterhaltungen. Plötzlich konnte ihr Mann wieder ganze Sätze äußern und ging besser mit seinen Depressionen um. Musik bietet immer die Möglichkeit neuer neuronaler Vernetzungen im Gehirn. Das ist anhand bildgebender Verfahren längst belegt, wird aber nicht wirklich genutzt. Musiktherapie ist nicht esoterisch, sie ist sowohl musikalisches Handwerk als auch psychologisches Können und wird in der Bedeutung für die Menschen zum Teil völlig unterschätzt.

Was sollte die Politik dabei tun?

Sie müsste für eine Zulassung bei der Leistungsabrechnung der Krankenkassen sorgen. Während Kliniken die Musiktherapie auf ihren Stationen abrechnen, ist das ambulant nicht möglich. Das Gesundheitsministerium müsste klarmachen, dass es die Bedeutung der Musiktherapie anerkennt, und langfristige Projekte auch außerhalb einer Therapie fördern, etwa regelmäßig Musikschaffende in ein Altenheim einladen, um gemeinsamen mit den Menschen zu singen. Vor allem müssen Musik und Kultur ein ressortübergreifendes Anliegen der gesamten Regierung werden.

Was meinen Sie damit?

In England gibt es Kultur oder Musik auf Rezept, was hervorragende Ergebnisse hervorbringt. Das ist auf der Insel auch einfach, weil es dort ein nationales steuerfinanziertes Gesundheitssystem gibt. Wenn sie auf der einen Seite Geld ausgeben und auf der anderen Seite Einsparungen haben, dann lohnt sich das für die Briten. Der Staat sieht es auch sofort. Wenn in Deutschland Konzertbesuche für gesundheitliche Risikogruppen staatlich gefördert würden, sähe man erst einmal nur die Ausgaben. Der Spareffekt käme erst später bei den Krankenkassen an. Unser Problem ist die Ressortspaltung. Die Länder sind für die Kultur zuständig und die Ministerien für Gesundheit und Familie für Kranke und die Prävention. Eigentlich müsste jedes Ministerium viel Geld in die Hand nehmen, um „Culture for Health“ zu fördern, wie es die EU eigentlich vorsieht.

Dafür müssten aber auch hierzulande Politiker und Politikerinnen ganz offen Musik in ihren politischen Alltag integrieren so wie etwa Barack Obama, der nach einem Attentat auf der Beerdigung ganz selbstverständlich „Amazing Grace“ sang.

Das sehe ich auch so. Dann gäbe es eine andere Haltung und wirklich nachhaltige Projekte, die der Staat fördert. Tatsache ist aber, dass die Deutsche Bank wunderbare Tanzprojekte von Royston Maldoom mit Millionen Euro unterstützt, aber es gibt keine dauerhafte Breitenwirkung. Die Komische Oper Berlin bietet mit „Resonare“ zusammen mit der Charité ein sehr gutes Projekt für Demenzerkrankte. 80 Prozent der in der Musiktherapie Tätigen machen das ebenfalls in Altenheimen. Aber sie sind nicht in der Kulturförderung des Staates. Auch ich muss in meinem Institut alle drei Jahre einen neuen Förderantrag stellen. Das bedeutet, ich muss mein Personal entlassen und stelle es wieder ein, wenn ich neue Unterstützung erhalte. Das ist absurd. Wenn Projekte gut sind, auch von Stiftungen wie der Aktion Mensch, dann sollten sie in eine langfristige öffentliche Förderung überführt werden – und dann sollte es eine gemeinsame ressortübergreifende Finanzierung geben, sowohl aus dem Kultur- als auch aus dem Gesundheitsministerium.

www.musiktherapie.de

Musiktherapie

Foto: Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft

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