Post-Tropicália

Brasiliens neue Troubadoure

1. Juli 2024

Lesezeit: 6 Minute(n)

Brasiliens Musikszene hat in den letzten dreißig Jahren vor allem mit tanzbaren Stilen wie Axé, Baile Funk oder Brazilectro auf sich aufmerksam gemacht. Gleichzeitig tauchten immer mehr Singer/Songwriter:innen auf, die eine neue Klangästhetik entwickelten. Akustisch und elektronisch, schlicht wie experimentell, folkig bis jazzig, futuristisch und traditionell zugleich, eint sie, sich Kommerz und reiner Partystimmung zu verweigern. Mit ihrer stilistischen Offenheit und der besinnlichen Grundstimmung sind sie dem Indiefolk geistesverwandt. Ihre Wurzeln liegen jedoch in der Tropicália-Bewegung.
Text: Hans-Jürgen Lenhart

Zum Verständnis dieser Generation Musikschaffender sei ein Blick auf die Rückseite des Albums Parabolicamará (1992) von Alt-Tropicalist Gilberto Gil empfohlen. Es zeigt einen Flechtkorb, den eine brasilianische Landarbeiterin auf dem Kopf transportiert und der starke Ähnlichkeit mit einer Parabolantenne hat, was auch durch den Hintergrund angedeutet wird. Brasilien ist in seinen Traditionen verwurzelt, saugt aber gleichzeitig per Satellitenantenne die neuen musikalischen Entwicklungen auf.

Der unorthodoxe Umgang mit Electronica in eher folkigen Kompositionen sowie die Integration von traditionellen Rhythmen sind Charakteristika dieser Szene. Die beständige Suche nach neuen Wegen, die Elektrifizierung der Instrumente, die Experimentierfreude bei gleichzeitigem Rückgriff auf traditionelle Wurzeln waren bereits typische Elemente der Tropicália der späten Sechzigerjahre. Diese war eine interdisziplinäre Bewegung, die Kunst, Film, Literatur oder Mode beinhaltete. Auch in der jetzigen Generation finden sich Musikschaffende, die wie Cibelle ebenso in der bildenden Kunst Karriere machen. Betrachtet man die Songtexte, findet sich oftmals höchst anspruchsvolle Lyrik voller ungewöhnlicher Metaphern bis hin zum Experimentellen. So besteht zum Beispiel der Text des Liedes „Vida-Código“ von Sänger Tiganá Santana nur aus Wörtern, die mit „m“ beginnen. Eine Form der Alliteration, die es in der Lyrik am ehesten in der Konkreten Poesie gibt und nach der man in deutscher Songlyrik wohl lange suchen muss. In Brasilien ist dies aber nichts Ungewöhnliches und etablierte sich bereits in der Tropicália.

 „Die Grundidee ist aber immer noch, weltoffen zu sein.“

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Der wohl bekannteste Vertreter der neuen Liedermachergeneration ist Lucas Santtana. Er ist Neffe des wohl radikalsten Tropicalisten Tom Zé. Schon 2009 versah Santtana auf Sem Nostalgia seine akustischen Songs mit umfangreichen elektronischen Treatments wie Dub-Effekten, Samples, programmierten Beats, Tempomanipulationen, dissonanten Klängen, Mash-ups, Geräuschen. Futuristischer Folk, der seinen Onkel begeisterte. Auch sang Santtana viel auf Englisch und ließ sich remixen. Meditative Stücke mischten sich dabei mit mutigen Klangabenteuern. Bevor es zum klanglichen Overkill kam, besann er sich 2019 mit O Céu É Velho Há Muito Tempo auf völlig einfache Songs zur akustischen Gitarre und deutliche Aussagen gegen die reaktionären Ideen des „Amazonas-Trump“ Jair Bolsonaro. Santtanas ökologische Überzeugungen legte er 2023 in O Paraíso dar (siehe auch folker #2.23) und fand hier die optimale Mischung zwischen akustischen Liedern mit synthetischen, aber dezenten Klangarrangements. Zur Tropicália führt er aus: „Ich sehe mich als Post-Tropicalist. Ich denke, dass alle Musikschaffenden in Brasilien nach der Tropicália ihre jeweils eigene Entwicklung mitbringen. Die Grundidee ist aber immer noch, weltoffen zu sein, sich andere Kulturen anzueignenDie Tropicalisten verstanden unter „kultureller Aneignung“ im Sinne des Dichters Oswald de Andrade das „Auffressen“ der dominierenden europäischen Kultur, um sich nicht von ihr selbst kulturell „auffressen“ zu lassen. und dann alles als große Mischung mit der brasilianischen Kultur darzustellen.“

Lucas Santtana

Foto: Jérome Witz

Tigana Santana

Foto: José de Holanda – Divulgação

Eine weitere Auffälligkeit im Wandel des Klangbilds der heutigen „Voice-and-Guitar-Generation“ ist die Vorliebe für radikale Schlichtheit im Arrangement. Sänger und Gitarrist Tiganá Santana hat sich in kurzer Zeit in Brasilien zum Meister einer neuen Sanftheit entwickelt. Gleichzeitig steht er für eine Besinnung auf die afrikanischen Wurzeln des Landes und singt auch in afrikanischen Sprachen. Bei Santana gibt es keine Bossa-Nova-Anleihen, es ist eher eine Art kontemplativer Ambient Folk. Manchmal genügen ihm dazu E-Piano-Cluster und fast flüsternder Gesang. Mit seiner hohen Stimme erinnert er an Milton Nascimento. Dessen in Brasiliens Zeit der Militärdiktatur textlich durchgehend zensiertes Album Milagre Dos Peixes hat Santana 2017 mit den ursprünglichen Texten als Protest gegen die neuen Faschisten in Brasilien neu eingespielt.

Zu Santana passt auch Gui Amabis, dessen Songs oft ähnlich kontemplativ und melancholisch wirken und der sich von Brasiliens Folklegende Dorival Caymmi genauso beeinflusst fühlt wie von Schottlands Folklegende Donovan. Er greift eher zur elektrischen Gitarre und schafft insbesondere auf Trabalhos Carnivoros von 2014 eine schlafwandlerische Atmosphäre. In Europa wurde er zuerst vom englischen Label Mais Um Discos bekannt gemacht, welches eine wahre Fundgrube für brasilianische Musik abseits des Mainstreams ist.

Gui Amabis

Foto: Julia Braga

Raf Vilar

Promo Foto

Ein weiterer Vertreter der neuen Sanftheit ist Raf Vilar. Ihm genügen minimale Percussion und unaufgeregte E-Gitarren-Begleitung. Es gibt zwar brasilianische Rhythmik und afrikanische Gitarrenläufe, dennoch wirkt die Musik beinahe sakral, dazu singt er ebenso in femininer Tonlage. Bruno Berle wiederum kreiert Lieder, die manchmal nur wie Skizzen wirken: kurze Stücke mit einprägsamen, verträumten Melodien, minimalistischen Arrangements, wenigen Akkorden. Er wechselt zwischen einfachen Songs zu Gitarre oder melancholischen Keyboardsounds und einer programmierten Rhythmusspur. Neuerdings singt er sogar mit Autotuning, verliert aber dabei nie seine zutiefst melancholische Wirkung.

Bruno Berle

Foto: Marina Zabenzi

Bruno Berle

Foto: Marina Zabenzi

Unorthodox in puncto Elektronik ist Domenico Lancellotti mit seinem „Maschinen-Samba“. Er und sein Kollege Ricardo Dias Gomes ersetzen auf dem Album Sramba die Schlaginstrumente des Sambas durch Klänge russischer Analogsynthesizer. Andererseits kann man auch hier wieder sanfte, melancholische Balladen in unkonventionell klingenden Klangwolken hören. Lancellotti verweist auf zwischenzeitliche musikalische Entwicklungen, die nach der Tropicália kamen: „Mein Einfluss ist die Mangue-Bit-Bewegung in Recife. In dieser erkenne ich einen Samen der Tropicália. Aber Mangue Bit geschah nicht aus Ehrfurcht vor oder Aneignung der Tropicália.“

Domenico Lancellotti

Foto: Daryan Dornelles

Domenico Lancellotti (re.) mit Ricardo Dias Gomes

Foto: Daryan Dornelles

Die heutige Musikschaffendengeneration hat artverwandte Konzepte wie die Tropicália, zeigt aber eine eigenständige Entwicklung. Der Mangue Bit (später Mangue Beat) entstand Ende der Achtzigerjahre durch Bands wie Chico Science & Nação Zumbi sowie Mundo Livre S/A. Auch hier wurden regionale Musikstile wie Côco oder Forró mit globalen Sounds wie Dub, Rap und Funk verbunden. Interessanterweise machte sich die Bewegung ein ähnliches Symbol wie Gils „Parabolantennenkorb“ zu eigen: der Arm einer im Schlamm steckenden Krabbe, der ihr als Antenne dient und Signale aus der ganzen Welt empfängt. Gleichzeitig gab es ein Manifest, das die Vielfalt der Stile im Mangue Bit betonte. Diese Bewegung war trotz ihrer Kurzlebigkeit entscheidend dafür, dass brasilianische Musikschaffende durch vermehrte Nutzung elektronischer Musikelemente Eingang in die internationale Club Music fanden und nicht mehr einzig der Weltmusik zugeordnet wurden. Rhythmisch, sprachlich und von den Instrumenten her integrierten sie aber immer folkloristische Traditionen. Sie wollten nur nicht mehr als reine Exoten gesehen werden.

So auch die inzwischen in London lebende Sängerin Cibelle. „Irgendwann habe ich entschieden: Ich werde mein Exotischsein annehmen und auf eine andere Ebene bringen – indem ich alles hineinpacke, was als hässlich, kitschig und vulgär gilt.“ Sie hat eine Art Psychedelic Folk entwickelt, der zwischen Dream Pop und brasilianischen Balladen changiert und sich als experimentierfreudigere Alternative zum Electro-Bossa à la Bebel Gilberto erweist. Besonders kreativ ist sie dabei bezüglich der Soundarchitektur ihrer Songs.

Cibelle

Foto: Marcos Dos Santos

Cibelle

Foto: Ariel Martini

Allen gemeinsam scheint zu sein, keine Bossa-Lounge-Stangenware abliefern zu wollen, was sie tendenziell von europäischen Produktionen brasilianischer Musik unterscheidet. Zudem zeigen anspruchsvolle Brasilianer und Brasilianerinnen schon immer, dass ihnen eindeutige stilistische Zuordnungen fremd sind. Mit dieser Szene beweist Brasilien eine beeindruckende Eigenständigkeit wie Innovationskraft und setzt dem ewigen Klischee der relaxten Bossa-Barden und Samba-Ekstasen ein anderes Bild entgegen.

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