Ein großer Online-Händler, den jeder kennen dürfte und der mit A anfängt, hat ein hat seit einiger Zeit ein Latin-Music-Portal. Was man da allerdings u. a. ganz oben als große Latin-Music-Stars empfohlen bekommt, lässt einen doch recht irritiert zurück: Helene Fischer, Ed Sheeran, Black Eyed Peas und später sogar Metallica*. Haben wir da etwa eine Bildungslücke? Doch dann die Rettung: „Platino“! Was ist das denn, dürfte so mancher fragen. Die Antwort ist ganz einfach: Es ist das, wonach es klingt – noch Platteres aus dem Latino-Bereich. Ein monotones Einerlei, wie man es täglich aus den privaten Hitradios hört, nur halt mit spanischen Texten. Entsprechend gibt es da monotone Hits wie „Monotonìa“ von Shakira & Ozuna. Aber gönnen wir der Kolumbianerin Shakira ihren Erfolg. Sie steht über allen Kategorien wie Pop, Latin oder Sprachen. Und wer ihr mit blöden Latino-Klischees kommt, der kriegt von ihr schnell mal eine aufs Maul. So verklagte sie 2020 erfolgreich den deutschen Rapper Samra aufgrund seines Stücks „Shakira“. Auf dem Cover war sie dort mit einer Zigarette abgebildet und im Text hieß es: „Zieh’ kolumbianisches Koks wie Shakira“. Fake News als Songtexte gehen schon mal gar nicht. So viel zur US-amerikanisch geprägten Latin Music in der Welt von Versandhändler. Es gibt übrigens noch andere Latin-Musiker außer Metallica, Shakira & Co. Und um die geht es jetzt.
*= Recherche vom 12.12.2022
João Selva
Passarinho
Underdog Records
MPB/ Brasilien, Frankreich
Hat man sich eine Weile in João Selvas Album Passarinho eingehört, dann könnte das Gefühl entstehen, eine brasilianische Wiederveröffentlichung aus den 1970ern zu hören. Dem ist zwar nicht so, aber Selva orientiert sich durchaus an dieser Zeit. Etliche Songs haben Arrangements mit Orchester, Chor und Flöten oder es gibt Disco-Rhythmik und Funk-Stücke, die direkt aus der großen Zeit von Jorge Ben oder des Samba-Funk-Movements kommen könnten. Gegen eine Hommage an diese Zeit ist nichts zu sagen, überzeugender wirkt Selva jedoch in den weniger aufwändigen Arrangements. In „Por Um Amor“ werden nur seine Stimme, ein dezenter Chor, afrobrasilianische Perkussion und Gitarre eingesetzt. Heraus kommt ein sanfter, wenn auch rhythmischer Song, der gut zu Selvas Stimme passt, die eher feinsinnig als energetisch wirkt. Interessant an dem Album ist das Konzept, neben den brasilianischen Richtungen vor rund 50 Jahren auch auf andere Genres einzugehen, die sich zeitlich parallel auf den Kapverden, der Karibik oder in Angola entwickelt haben. Selva lebt in Frankreich, was wohl einen breiteren Blick auf portugiesischsprachige Musik ermöglicht haben mag.
Links zum Anhören:
Zu Titel auf Spotify springen. (Erfordert Spotify-Account.)
Ian Lasserre
Meu Único Medo È Primavera
Ajabu! Records/ Broken Silence
Singer-Songwriter, Jazz/ Brasilien
Ian Lassere ist ein gutes Beispiel, die Genrebezeichnung Música Popular Brasileira (MPB) für viele neue brasilianische Musiker zugunsten Singer/Songwriter aufzugeben. Hier gibt es kaum Bezüge zu Musikstilen und Rhythmen der brasilianischen Musik, es ist eher Songwriting mit jazzigen Arrangements. Die Musik setzt dennoch etwas fort, was einst mit der coolen Ästhetik der Bossa Nova begonnen hatte. Natürlich gibt es auch für diese Generation Vorläufer wie Vinicius Cantuaria oder Guinga. Lasserre ist es durch seine besinnliche Gesangsweise und die dezente Spielweise seiner Band gelungen, eine äußerst melancholische Stimmung zu erzeugen. Beides bildet ein homogenes Ganzes. Ihm geht es um die Faszination, die von einfachen musikalischen Elementen ausgeht wie einem gedämpften Walking-Bass-Rhythmus in „Saudade Do Abraco“ oder dem Singen über einen von der Gitarre geführten Grundakkord in „Vinheto Do Mar“. Lasserre reiht sich ein in die Generation neuer brasilianischer Singer/Songwriter wie Amabis, Guinga, Lucas Santtana, Raf Vilar oder Tiganá Santana, deren gemeinsamer Bezugspunkt sparsame Arrangements, ein ruhiger Gestus und die Suche nach neuen Sounds ist. Es gibt keinen Namen für diese Richtung, sie bekommt aber immer mehr Gestalt.
Links zum Anhören:
Anna Setton
O Futuro é Mais Bonito
Galileo MC
Brasilien/ MPB
Zu jener angedeuteten Richtung kann man auch Anna Setton zählen. Es ist schon seltsam. Während in Brasilien das Land gerade unter einer ideologischen und sozialen Spaltung zu zerbrechen droht, kommen in letzter Zeit vermehrt Alben von dort zu uns, die ein betont optimistisches Gefühl vermitteln wollen. O Futuro É Mais Bonito – Die Zukunft ist schöner – heißt das Album der Singer-Songwriterin Anna Setton aus São Paulo. Und es reiht sich zudem in die Liste sphärischer Alben ein, die derzeit die Oberhand gewinnen. Natürlich ist das nicht repräsentativ, aber man könnte sich fragen, warum diese sanfte Art von brasilianischer Musik ausgerechnet jetzt in Deutschland so viel veröffentlicht wird. Ist es diejenige Musik Brasiliens, die sich hier am besten vermarkten lässt, denn die Zeit brasilianischer Tanz- und Trommelorgienmusik ist eher vorbei? Kommt diese Musik aus der „anspruchsvollen Ecke“, die hier besser goutiert wird? Ich schätze, es hat eher mit den Aufführungsmöglichkeiten dieser Musik zu tun. Akustische oder mit wenig Personal spielbare Musik hat in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eher eine Chance auf die Bühne zu kommen, zumal die heutige Instrumentaltechnik füllige Sounds und ausgeklügelte Arrangements zulassen, die recht professionell klingen.
Anna Settons sinnlicher Gesang und eingängige Songs lassen sich ein wenig mit Bebel Gilberto vergleichen, obwohl sie nicht so aufwändig produziert sind. Einschmeichelnde Melodien, sphärische Sounds, in denen aber immer einmal Rhythmuswechsel stattfinden, dezente Arrangements mit kaum spürbaren elektronischen Sounds und leichtfüßige Grooves bestimmen die Musik. Hier klingt nichts allzu modisch, aber auch nicht zu hausbacken. Gefühl ist Trumpf.
Links zum Anhören:
Zu Titel auf Spotify springen. (Erfordert Spotify-Account.)
GRUPO UM
Starting Point
Far Out Recordings
Brasil Jazz/ Brasilien
Aber Brasilien klang einmal anders. 1975, während die Militärdiktatur auch die künstlerischen Freiheiten durch Zensur und Auftrittsverbote einschränkte, erlaubten sich unterirdisch in einem Keller in Sao Paulo drei Musiker, sich alle musikalischen Freiheiten zu nehmen. Die Brüder Lelo (Fender Rhodes) und Zé Eduardo Nazário (Drums, Percussion) sowie der Bassist Zeca Assumpção spielten dort 1975 als Grupo Um ein Album ein, welches erst jetzt veröffentlicht wurde. Zuvor hatte das Trio bereits in Hermeto Pascoals Gruppe gespielt, und dieser ist dafür bekannt, schon immer Schlagzeuger mit Hang zu ungewöhnlichem Instrumentarium und Klängen um sich zu scharen. Das merkt man auch hier, denn Drummer José „Zé“ Eduardo Nazário gilt noch heute als einer der einflussreichsten Schlagzeuger Brasiliens („professor dos professores“). Während seiner Zusammenarbeit mit Hermeto baute Zé Eduardo sein eigenes All-in-One-Percussion-Setup, das als „Barraca de Percussão“ (Percussion-Zelt) bekannt ist. Das merkt man insbesondere im Stück „Jardin Candida“, welches klingt wie der Elefant im Schrottwarenhandel: Eine geniale, freie Klangreise mit allem, was wohl im Studio zu finden war. „Cortejo Dos Reis Negros“ lebt dagegen von einer Variation des Maracatu-Rhythmus mit einer Zwei-Noten-Basslinie, Klavierimprovisationen, jubelnden, wortlosen Vocals sowie Klängen der Cuica und von Gleitflöten. Oder „Onze Per Oito“ hat zwar nur zwei Akkorde, das Stück im 11/8-Takt packt einen aber durch immer wilder werdende Fender-Rhodes-Improvisationen. Der Einfluss von Brasiliens Jazzpapst Hermeto Pascoal ist deutlich, die Verbindung von Free Jazz mit brasilianischen Klängen und Rhythmen eine Jazzform, wie sie sich damals nur dort entwickelt hat. Man darf gespannt sein, ob das Far-Out-Label noch weitere unbekannte Schätze aus dem Universum um Hermeto Pascoals Musikerkommune hebt.
Links zum Anhören:
Zu Titel auf Spotify springen. (Erfordert Spotify-Account.)
LIA
Como Una Flor Sin Raíces
(Anecdotiques – FR-Import)
Frankreich, Argentinien/ Latinfolk
Die französisch-argentinische Sängerin Lia bietet eine besondere Mischung aus lateinamerikanischen Folkballaden und jazzigen Arrangements. Das Klangbild wird von für argentinische Musik ungewöhnlichen Instrumenten wie Stehbass, Clavichord oder Mandoline bestimmt. Sparsame Arrangements und relaxter Sound.
Links zum Anhören:
TUNICO
Tunico
Far Out Recordings
Brasil Jazz/ Brasilien
Aus Rio kommt der junge Sopransaxophonist und Gitarrist Tunico. Gleich zu Beginn reißt er mit einem atemberaubenden Tempo und Unisono-Gesang in „Galope“ den Hörer mit. Zwischen mysteriös flirrenden Klängen, ruhigen Soli und temporeichen Rhythmen spielen sich einzelne Stücke ab. Die Gitarre trägt die Musik, wirkt aber jazzig-dezent. Nur selten wie in „Solar De Hortênzia“ wechselt sie in einen rockigen Sound. Die treibende Rhythmik erinnert manchmal an den Airto Moreira der 1970er Jahre.
Links zum Anhören:
Zu Titel auf Spotify springen. (Erfordert Spotify-Account.)
Kurt Hartel (Regisseur)
La Clave – Das Geheimnis der kubanischen Musik
(LAUTRAZfilm/ W-film)
Deutschland
Sprache: Spanisch – OF, OmU, Voice Over (Deutsch), 86:00
Zum Schluss noch ein empfehlenswerter Film, der demnächst auf DVD erscheint. Kuba wird oft als Land größter Armut dargestellt, aus dem man am besten abhaut. Laut diesem Film übertrifft Kuba aber alle Länder in Sachen Musikschulen an Reichtum: Es hat die meisten pro Einwohner auf der Welt. Und das merkt man beim Betrachten dieses Dokumentarfilms über die kubanische Musik: Der Anteil an Frauen in den gezeigten Formationen ist bemerkenswert. Ebenso, dass die MusikerInnen kubanische Musik, Jazz und Klassik wie selbstverständlich ineinanderfließen lassen. Ein Verdienst der kostenlosen(!) und hochwertigen Musikschulen des Landes. Der Film des deutschen Regisseurs Kurt Hartel hängt sich an den Claves auf, womit zugleich die Klanghölzer und der Leitrhythmus bezeichnet werden. Anhand von Aussagen des Musikhistorikers Dr. Olavo Alén und vielen MusikerInnen werden historische Hintergründe, Instrumente, religiöse Entwicklungen, Traditionen und Tänze dieser Musik erklärt. Dabei kommt die Musik nicht zu kurz. Gerade die Schlagzeug- und Perkussionsvorführungen präsentieren Leistungen auf höchstem Niveau. Hartel zeigt das Meer der Talente, nicht die Stars, lässt die MusikerInnen selbst erzählen und vermeidet so touristische Klischees.
Links zum Anhören:
0 Kommentare