Les Dames du raï

Eine wichtige Geschichte / Cabaret Sauvage, Paris, 20.9.2025

21. November 2025

Lesezeit: 5 Minute(n)

Seit 27 Jahren ist das Pariser Cabaret Sauvage der Tempel der Weltmusik. Das „Wilde Kabarett“ liegt im Parc de la Villette, hinter Philharmonie und anderen Konzertsälen. Das Zirkuszelt wurde zur festen Struktur umgebaut und bietet mindestens 1.200 Leuten Platz. Ziel des Gründers Méziane Azaïche: Menschen jeder Herkunft zusammenzubringen und sie für andere Kulturen und Musikstile offen zu machen.

Text: Martina Zimmermann; Fotos: Phot Hocine
Cheikha Hadjla‍

 

Raï aus Algerien gehört schon lange zum Pariser Alltag. Khaled, Cheb Mami, Raïna Raï … Die in Europa bekanntesten Künstler der Musikrichtung sind: Männer. Dabei waren es Frauen, die den Raï als Undergroundmusik begründeten. Ein Musical – Les Dames du raï – erzählt diese wichtige Geschichte. Angesichts des großen Erfolgs wurde die Show, die im April 2025 uraufgeführt wurde, immer wieder verlängert – zuletzt lief sie vom 5. bis 28. September 2025.

In den 1930er-Jahren legten Frauen im algerischen Westen die Grundlage für ein neues Musikgenre, das bisher von weisen Männern (sogenannten Cheikhs) gesungen wurde und als „Folklore aus Oran“ gegolten hatte. Diese weiblichen „Cheikhates“ sangen nun auf Hochzeiten und Taufen von ihren Lieben und ihren Sorgen. „Es sind schöne Lieder“, meint Cheikha Hadjla. „Ich suche mit meinem Liebsten Blumen in den Bergen“, übersetzt Fella Japonia ein Beispiel. Dennoch galten diese Sängerinnen als „vulgär“ und „verdorben“. Von den Wächtern der guten Sitten wurden sie als Prostituierte angesehen. Sie sangen daher unter Pseudonym, und auf den Plattencovern waren Alpenlandschaften zu sehen oder der Eiffelturm, auch mal eine aus einem Magazin ausgeschnittene Blondine. Auf die Bühne kamen diese Damen ab zwei Uhr morgens. Sie trugen Schleier und sangen im Dunkeln, während ein „Moderator“ ihren Lohn im Publikum kassierte.

Mohamed Abdennour alias Ptit Moh

 

„Auch meine Familie wollte nicht, dass ich singe“, erzählt Cheikha Hadjla im Interview. Sie habe innerhalb der Familie immer gesungen. Ihr Gesicht konnte die aus Sidi Bel Abbès stammende Frau aber erst in Frankreich zeigen. „Singen galt als Schande für eine Frau“, erklärt Hadjla. „Um die Familie zu respektieren, habe ich kein Album aufgenommen.“ Auch in Frankreich sang sie zuerst nur auf Hochzeiten. Erst 2009 traute sich Hadjla, ein Foto von sich auf das Cover einer Aufnahme zu setzen (Live À Lyon – Cheikha Hadjla im Duo mit Kader).

Cheikha Hadjla und Fella Japonia

 

Die jüngere Fella Japonia aus Tlemcen hat schon in Oran gesungen – traditionelle andalusische Musik, keinen Raï. Obwohl ihre Schwester als Backgroundchoristin mit Raïsängern arbeitete, traute sich auch Fella erst in Frankreich, ihren eigenen Weg zu gehen. „In den Krisenjahren [Bürgerkrieg von 1992 bis 2002 zwischen Regierung und islamistischen Gruppen; Anm. d. Verf.] war es zu schwer für eine Frau“, erzählt sie. „Warum man mich ‚die Japanerin‘ nennt? Vielleicht wegen meiner Augen“, erklärt die Schwarzhaarige lachend und zwinkert: „Japonaise“ sei von klein auf ihr Spitzname.

Rabah Khalfa

 

Mitte der Achtziger wurden die „Raï Rebels“ zu einem Phänomen. Zu dieser Zeit hatten die Chebs („junge Männer“) die Bühne besetzt, sangen den Blues der algerischen Jugend, von Sex und Alkohol, aber auch vom Alltag. „Wohin fliehen?“ („Fuir, Mais Où“) lautete ein Titel von Cheb Khaled, der 1988 zum Song der demonstrierenden Jugend wurde. Im algerischen Radio wurde die Musik zensiert, aber die Mode setzte sich in der maghrebinischen Diaspora in Frankreich fort und ertönte in den Bars im Pariser Bastille-Viertel. 1986 fand das erste Raï-Festival im Pariser Vorort Bobigny statt. Cheb Khaled war der Star, mit seiner goldenen Stimme sollte er die Berühmtheit des Genres werden – auf Kosten zahlreicher anderer Chebs, die mit Taxifahren und sonstigen Jobs ihren Lebensunterhalt verdienen mussten und wieder in Vergessenheit gerieten. Wie die Frauen. In Bobigny war nur Cheba Fadela dabei, damals im Duo mit ihrem Ehemann Cheb Sahraoui.

Mahfoud Lazizi

 

Im Cabaret Sauvage interpretieren Cheikha Hadjla und Fella Japonia nun die Songs der ersten „Damen des Raï“. Hadjla singt mit ihrer tiefen Stimme die Songs Cheikha Rimittis, wie die Legende begleitet von einer Gasba-Flöte. Rimitti verdankte ihren Spitznamen ihren „Remets-moi“ („Schenk mir noch ein Glas ein“). Fella Japonia hat eine höhere Stimme und singt traditionelle und spätere Songs (zum Beispiel von Cheba Fadela). Das Musical erinnert an diese Sängerinnen, das Publikum – jeden Alters – kennt die Lieder von Cheikha Djenia, Cheikha Rabia, Cheba Fadela und Cheba Zahouania auswendig. Sie handeln von Liebe und vom Blues enttäuschter oder aus gesellschaftlichen Gründen unglücklicher Liebe. Begleitet werden die Sängerinnen von einem Orchester unter der Leitung Mohamed Abdennours alias Ptit Moh, der mit seiner Mandole neue Arrangements in den Musikstil Westalgeriens bringt. Am Synthesizer sitzt Kenzi Bourras, Rabah Khalfa und Mohammed Nenni sorgen für die Percussion, Mahfoud Lazizi spielt die Gasba – alle Musiker sind bekannt von zahlreichen Auftritten zwischen Algerien und dem Rest der Welt.

Kenzi Bourras

 

Der Journalist Rabah Mezouane spricht den Erklärtext, er hat die Show gemeinsam mit Regisseurin Géraldine Bénichou geschrieben: „Mit ihren befreienden Texten haben die Frauen eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung des Raï gespielt.“ Zum Konzert werden historische Fotos und Aufnahmen auf Videoleinwände projiziert. „Ich arbeite seit Jahren über dieses Genre“, erklärt Aziz Smati, der die Videos gemacht hat, bescheiden. Der algerische Journalist und Fernsehmoderator hat den ersten Raï-Song im algerischen Rundfunk gesendet, „Zabana“ von Raïna Raï. Der Text dreht sich um einen Widerstandskämpfer aus Oran und war daher weniger anstößig als etwa der des berühmten Songs „Beraka“ („Wir haben uns in einer Hütte geliebt“), der wie Raï insgesamt der Zensur unterlag. „Die Texte werden in der Show übersetzt“, so Smati, „damit die Leute den Beitrag dieser Künstlerinnen verstehen können.“ „Beraka“ stammt ursprünglich von Cheba Zahouania. „La Camel“ – das Lied war auf Khaleds Debütalbum Kutché – wurde erstmals von Cheikha Rimitti gesungen. „Diese rebellischen Honigstimmen haben weitgehend dazu beigetragen, dass der Raï 2022 zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde“, meint Rabah Mezouane. Die Inszenierung Les Dames du raï setzt diesen Pionierinnen nun ein Denkmal.

Mohammed Nenni

 

Am 28. Oktober 2025 feierte dann eine der ganz großen Raï-Sängerinnen im Cabaret Sauvage ihr Comeback: Cheba Fadela. Gemeinsam mit ihrem Ex-Ehemann Cheb Sahraoui interpretierte sie den Hit „N’sel Fik“, der sie ab Ende der Achtzigerjahre auf Tourneen bis in die USA führte. Seit 1998 ist Fadela geschieden. Die Künstlerin hat zwei Söhne, eine Tochter und neun Enkel. Heute steht sie alleine im Rampenlicht und präsentiert ihr neues Album Yemma, an dem sie ein Jahr lang gearbeitet hat. Sie verspricht „alte und neue Titel“. „N’sel Fik“ befindet sich auf dem Album, dann gibt es einen Song für ihre Mutter, ein anderer Titel handelt von Scheidung, ein weiterer von den sogenannten Harraga, die auf Booten illegal nach Europa auswandern …

Les Dames du raï

 

„Die Aktualitäten von heute“, beschreibt es Cheba Fadela. Auch Liebeslieder gibt es wie „Ich habe dir mein Herz gegeben“ – „Der echte Raï!“, so Fadela mit Blick auf viele heutige Produktionen. „Ohne Autotune, Vocoder, Robotic.“ Sie könne jederzeit a cappella singen. „Ich bin 63, habe meine Stimme und singe bis zu meinem Tod.“ Auf dem neuen Album sollen die Fans „Überraschungen und Gäste“ entdecken.

www.cabaretsauvage.com

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Aufmacher:
Fella Japonia
Plakat Les Dames du rai

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