Dass Europa eigentlich eine von drei Seiten von Meer umgebene Halbinsel mit vorgelagerten Inseln ist, dessen konnte man sich bei der 2025er-Ausgabe der Akkordeonale bewusst werden, denn fast alle Musikschaffenden der Tournee kamen aus oder wohnen in Orten mit Meeresnähe, drei davon sogar auf Inseln, nämlich Andrew Waite aus Schottland und Peppino Bande und Roberto Tangianu aus Sardinien. Helena Sousa Estevez stammt aus dem spanischen Galicien und lebt in den Niederlanden, von wo auch Tourmanager Servais Haanen stammt, der inzwischen in der Pfalz wohnt. Johanna Stein ist Kölnerin, also zumindest Anwohnerin eines ins Meer fließenden Stromes, was auch auf die Österreicherin Franziska Hatz zutrifft, die aus der Steiermark stammt, aber in Wien lebt.
Text: Michael A. Schmiedel
Die Akkordeonale ist als Tournee angelegt, aber die jeweiligen Veranstaltungsorte haben auch ihre je eigenen Einflüsse. Altenkirchen liegt im Westerwald in recht unmaritimer Mittelgebirgslandschaft. Eigentlich wäre ja die Stadthalle der Ort der Wahl gewesen, doch wurde diese vor einigen Jahren geschlossen, nun aber doch endlich renoviert – woran nicht unmaßgeblich Helmut Nöllgen vom Haus Felsenkeller, dem soziokulturellen Zentrum von Altenkirchen, beteiligt war. Seit Jahren fanden Konzerte statt in der Stadthalle an verschiedenen Ausweichorten statt, so die Akkordeonale nun zum dritten Mal in der Tanzschule Let’s Dance. Nöllgen war es auch, der an diesem Abend das Publikum begrüßte, diese Geschichte erzählte und Werbung machte für das Eröffnungswochenende der Stadthalle am 12. September 2025. Das erste Konzert dort fand jedoch bereits am 13. August statt, nämlich das 130-jährige Jubiläum des MGV Niedererbach, dem der Schreiber dieser Zeilen ebenfalls beiwohnte. Doch im Mai war das alles noch Zukunftsmusik, sodass Musizierende und Zuhörende zum letzten Mal die auch keineswegs schlechte Atmosphäre des Saales der Tanzschule genießen konnten.
Auch Servais Haanen weiß Geschichten zu erzählen, was seine Ansagen immer wieder zu einem Hochgenuss macht, gewissermaßen zu Sahnehäubchen auf der Torte der Musik der Akkordeonale – oder frei nach Wilhelm Weischedel: zur musikalischen Hintertreppe der Musikschaffenden. So stellte er den schottischen Akkordeonisten Andrew Waite mit der Information vor, dass dieser als Schüler zwei Stunden vor Schulbeginn immer schon Akkordeon geübt habe, heute in zwei Bands spiele, schon mit Sting gespielt habe, zwei Dinge hasse – nämlich rohe Zwiebeln und in Warteschlangen zu stehen –, frisch verheiratet sei und gerne Zeit mit seiner Frau und seinen Freunden verbringe. Wozu Haanen ergänzte: „Da hat er jetzt Pech, denn er ist mit uns unterwegs.“ Des einen Pech, des anderen Glück, denn Waites Musik war traumhaft schön, gepickt mit Ansätzen aus dem inselkeltischen Folk, aber diese doch meistens nur andeutend, um dann doch wieder in einen eigenen, auch von der Klassik beeinflussten Stil überzugehen. Wer von ihm Jigs und Reels erwartete, wurde aber auch nicht enttäuscht, denn ein Set aus solchen Tänzen kam gegen Ende des Konzerts in Begleitung von Peppino Bande, Roberto Tangianu, Franziska Hatz und Servais Haanen. Die Akkordeonale besteht immer aus einer Mischung von Stücken, die solo, von Teilen des Ensembles oder von allen gemeinsam gespielt werden. Und alle anwesenden Musizierenden bringen ihre jeweiligen Eigenarten mit ein, sowohl die ihrer heimischen Musikkultur als auch ihre individuellen Besonderheiten.
Peppino Bande stammt aus einer Akkordeonistenfamilie und wurde, wenn er als Kind weinte, immer mit Akkordeonklängen beruhigt, erzählte Haanen und fügte hinzu: „Praktisch, ne?“ Sein Landsmann Roberto Tangianu indes spielte kein Akkordeon, sondern Launeddas, eine Schilfrohrflöte, die seit dreitausend Jahren auf Sardinien hergestellt und gespielt wird. Haanen erklärte, die Rohre dafür würden am besten im Februar geschnitten, wenn sie schön trocken seien, am besten in einer kalten Nacht, wenn „in der Ferne die Wildschweine heulen“. Launeddas bestehen aus zwei Spielrohren und einem Bordunrohr. Bei der Akkordeonale sind immer ein, zwei Musizierende ohne Akkordeon dabei, diesmal eben Tangionu mit den Launeddas und wie schon oft Johanna Stein am Cello. Das Duo aus Akkordeon, einem recht modernen Instrument, und den archaischen Launeddas hörte sich wider Erwarten sehr harmonisch an, als hätten die beiden sich gesucht und gefunden: das Akkordeon mal volltönend, mal „spitzer“, die Launeddas nasal, ähnlich einer sehr hohen Sackpfeife. Die Musik des Duos war großenteils sehr schnell und von mediterranem Temperament. Die Vorstellung, dass Tangianus Flötenart zur Zeit der klassischen Antike schon alt war, tat ihr Übriges.
Waren es in Bandes Familie die Männer gewesen, so waren es in Franziska Hatz’ Familie die Frauen, die die Tradition des Akkordeonspiels weitergaben. Diese Powerfrau leitet seit 2024 als eine von zwei Frauen das Internationale Wiener Akkordeonfestival, spielt in zwei Bands, leitet einen Chor und ein Akkordeonorchester, „singt, tanzt und geht in der Donau schwimmen“, wie Haanen erklärte. Hatz spielte zunächst mit Johanna Stein zusammen, die Haanen wiederum mit der Bemerkung vorstellte: „Johanna ist zu allen musikalischen Schandtaten bereit und kann das auch!“ Um zu ergänzen, dass sie 25 Jahre lang nicht zum Frisör gegangen sei, um sich so das Geld für ihr erstes Soloalbum zusammenzusparen, welches nun in der Pause bei Kristine Talamo-Spiegel am CD-Stand käuflich zu erwerben sei. Außer dass Hatz Akkordeon spielte, sang sie auch, zum Beispiel „Ich will allein im Hause wohnen, mit zwei Fliegen, einer Katze und drei Blumen“, eine Poesie, die an Mascha Kaléko erinnerte. Später jodelten Hatz und Stein sogar zusammen, und zwar zweistimmig.
Servais Haanen ist, wie er erzählte, an der Maas großgeworden und hatte zusammen mit seinem Bruder eine schöne Kindheit voller Abenteuer – wie dieses, dass sie einmal eine alte Kanonenkugel fanden, diese ins Feuer legten, ohne dass etwas passierte, mit ihr Steine zermalmten, bis Schwarzpulver herausrieselte, das sie ebenfalls ins Feuer kippten, was dann eine schöne Stichflamme gab. Passend dazu nannte er ein Solostück auf seinem diatonischen Akkordeon „Just For Fun“.
Helena Sousa Estevez stellte er als eine Akkordeonistin vor, die dieses Instrument für „das wunderbarste, komplexeste, vielfältigste und vollständigste“ überhaupt hält und sich der zeitgenössischen Musik verschrieben hat. Auf der Akkordeonale aber begann sie mit einem barocken Stück des italienisch-spanischen Komponisten Domenico Scarlatti, der die Überschlagtechnik, also das Spielen mit überkreuzten Händen, erfunden habe, was Estevez hier aber nicht vorführte, denn die Technik funktioniert zwar auf dem Cembalo, aber nicht auf dem Akkordeon, das es zu Scarlattis Zeiten ja noch gar nicht gab. Später spielte sie aber eine neotonale zeitgenössische Ballettsuite für eine Zwiebel des japanischen Komponisten Takashi Yoshimatsu. Gut, dass Andrew Waite da nicht mitspielen musste, denn der mag ja keine rohen Zwiebeln. Ganz am Schluss, bei der zweiten Zugabe, kam dann noch der im Artikel über Estevez im Vorfeld der Tournee erwähnte Carlos Núñez als Komponist zum Zuge, was Estevez’ Spiel wieder einen folkigeren Charakter verlieh. Begleitet wurde sie dabei vom ganzen Ensemble.
Natürlich bringt das fast allen gemeinsame und für die Akkordeonale namensgebende Instrument bei allen Unterschieden im Detail zwischen chromatischen und diatonischen Akkordeons über die musikkulturellen Grenzen hinweg einen ähnlichen Klang mit sich, sodass ein Duo aus Launeddas und Cello ganz ohne Akkordeon auch mal eine willkommene Abwechslung bot. Aber durch die vielen Akkordeons entstehen auch Klangteppiche aus Melodien und Akkorden, die eben typisch für die Akkordeonale sind und die einem die Entscheidung schwer machen, ob man dabei die Augen schließen und nur zuhören oder doch lieber den Spielerinnen und Spielern auf ihre behänden Finger schauen will. Beides ist ein Hochgenuss. Und man darf gespannt sein, welche Meisterinnen und Meister Servais Haanen 2026 zusammentrommeln wird.
Aufmacher:
Links:
www.akkordeonale.de
www.kultur-felsenkeller.de
www.tanzschule-letsdance.de
Siehe auch die Porträts der Beteiligten aus dem Vorfeld der Akkordeonale:
www.folker.world/gehoert-entdeckt-gelesen/akkordeonale-2025












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