Gänsehautfeeling
Was für eine Energie und Kreativität er ausstrahlt. In einem Alter, in dem andere auf endlosen Abschiedstouren ihre Vergangenheit zelebrieren, verblüfft Paul Millns mit einem weiteren Album starker neuer Songs, als ob ein Großteil seiner Karriere noch vor ihm liege. Mit seiner ganzen Erfahrung von über fünfzig Jahren als Musiker hat der 79-jährige Pianist ein dynamisches, reifes Werk voller tiefer Weisheiten und Geschichten im Freiburger Studio von Ingo Rau produziert. Seine Mischung aus Blues, Soul und Liedermachermusik erzeugt direkt mit dem Auftaktstück „Ghosts“, in dem Millns auf die Erlösung vom Zeitalter der Lügen hofft – Gänsehautfeeling. Angesichts seiner großen Songschreiberkunst ist es einfach verwunderlich, warum der aus dem englischen Norfolk stammende Musiker in Deutschland bis heute keine große Beachtung findet – und das, obwohl er bereits in den Siebzigerjahren mit Größen wie Alexis Korner, Eric Burdon, Louisiana Red, Peter Thorup oder Bert Jansch tourte, bevor er sich seinen eigenen Kompositionen widmete und 1980 durch seinen Auftritt im Rockpalast hierzulande Bekanntheit erlangte. Es ist vor allem der Blues, dem sich Millns verschrieben hat und mit dem er entsprechend seines Albumtitels „nah an der Schmerzgrenze“ schonungslos das Leben reflektiert und in seiner tiefsinnigen und humorvollen Poesie über ein Leben außerhalb der normalen Gesellschaft erzählt. „Je älter man wird und umso mehr die Zeit davonrennt, desto mehr Dimensionen des Lebens nimmt man wahr“, sagt Millns, der vor Lebensfreude nur so sprüht. Mit seinen ausgefeilten Melodien und Rhythmen, die einen sofort gefangen nehmen, sinniert er über vergangene Begegnungen, Vergänglichkeit sowie den Tod, und gleichzeitig sieht er die Notwendigkeit, sich den Herausforderungen der Welt wie etwa dem Klimawandel furchtlos bis zum Schluss zu stellen. Seine einfühlsame, manchmal angenehm brüchige Stimme sowie sein versiertes Klavierspiel bilden eine symbiotische Einheit mit dem exzellenten harmonischen Klang seiner fünfköpfigen Band, zu der auch sein Sohn Andreas an der Hammondorgel zählt. Entfacht wurde Millns Passion für die Musik durch den Besuch eines Ray-Charles-Konzertes in den frühen Sechzigern. Seinen amerikanischen Kollegen hat er nun bereits um fünf Jahre überlebt, und ein Ende von Millns Schaffenskraft scheint nicht in Sicht. Nicht nur für die Liebhaber authentischen Songwritings ist zu wünschen, dass es noch lange so bleibt.
Erik Prochnow
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