Ganz ohne Frage ist Cecil Sharp eine, wenn nicht die zentrale Figur des englischen Folksongs und -tanzes des frühen 20. Jahrhunderts. Niemand hat so viele Lieder und Tänze so intensiv und so sorgfältig gesammelt wie er. Aber wie das bei Menschen häufig der Fall ist, die Herausragendes leisten: Sharp war bereits zu Lebzeiten manchmal kontrovers, und er ist es ganz besonders heute, wo viele seiner Standpunkte und Thesen veraltet erscheinen. Am 23. Juni 2024 jährte sich Sharps Todestag zum hundertsten Mal, und das war ein guter Grund, ihm nach 1933 endlich eine zweite Biografie zu widmen. Der freiberufliche Volksliedforscher David Sutcliffe hat diese Aufgabe übernommen, und das Resultat zeigt deutlich sein Bemühen um Ausgewogenheit sowie die Berücksichtigung so vieler Quellen wie möglich, um ein möglichst ganzheitliches Bild von Sharps Leben und seiner Arbeit zu erhalten. Ja, Sharp war ein Mann mit Einstellungen, die in seiner Zeit normal waren und heute unverständlich bis reaktionär klingen, er hat auch fachliche Fehler gemacht und Menschen verprellt. Man fragt sich ebenfalls beim Lesen oft: Wie intensiv hat er sich um Frau und Kinder gekümmert, denn Sharp hat mit unglaublichem Einsatz gesammelt und seinen Informanten und Informantinnen, meist gesellschaftlich eine Stufe unter ihm, größten Respekt entgegengebracht, ihre Beiträge gewürdigt und dokumentiert. Politisch vertrat Sharp sogar eine Art christlichen Sozialismus. Das Buch wird Sharps Kritiker sicherlich nicht verstummen lassen, aber Sutcliffe bemüht sich überzeugend um Antworten auf die Fragen, warum Sharp gewisse Dinge so sah oder so tat. Ein komplexes und komplettes Leben so gut wie möglich zu dokumentieren und zu erklären, mehr kann eine Biografie nicht leisten. Sutcliffe hat genau das geschafft.

Mike Kamp