Folkmusik ist immer schon Gegenstand universitärer Forschung gewesen. Als Volkskunde, Ethnologie oder Kulturanthropologie analysieren Menschen aus der Wissenschaft weltweit, wie Lieder über Generationen hinweg tradiert werden und sich über ihre Region hinaus verbreiten. Professorin Kathleen Hudson von der Schreiner University in Kerrville ist die führende Expertin für US-amerikanische Musiktraditionen in Texas. Ihr neues Buch ist das dritte in einer Serie mit dem Titel Oral History, also der Aufzeichnung von mündlich überlieferten Geschichten. Musikwissenschaft und -kritik fokussieren oft auf eine von kommerziellen Mechanismen verzerrte Auswahl an Musikschaffenden. Dies geht zulasten marginalisierter Gruppen, und hinter der PR bleiben größere Zusammenhänge verborgen. Die Interviews von Hudson schließen diese Lücke und geben über dreißig Musikschaffenden von der mexikanisch-texanischen Grenze eine Stimme – Songwriterinnen, Sänger, Musikerinnen, Bandleader. Darunter sind etabliertere Stars wie Flaco Jiménez, Tish Hinojosa und Rosie Flores, aber auch Newcomer wie Josh Baca oder Lesly Reynaga. Sie alle reflektieren über das Leben an der Grenze, ihre Rolle als meist mexikanischstämmige, oft spanischsprachig aufgewachsene Amerikaner:innen und sortieren Fachbegriffe wie TexMex, Tejano, Hispanic, Mariachi, Corrido, Conjunto und Norteño. Hudson motiviert mit launigen Anekdoten und präzisen Interventionen ihre Gegenüber zu tiefen, persönlichen Einblicken in Leben und Schaffen. Ihr Interesse gilt regionalen Wurzeln, familiären Einflüssen und dem professionellen Netzwerk im kreativen Prozess. Wie kommt es, dass genau hier im Norden des Rio Grande dieses mal tanzbare, mal anrührende Amalgam entstehen konnte aus dem deutschen, tschechischen und spanischen Erbe einerseits, moderner US-Musik zwischen Adult Pop, Blues, Jazz, Country und Rock andererseits? Was macht diese Spielart postmigrantischer Weltmusik so attraktiv für ein Publikum in Europa oder China? An diesen – um den Titel aufzugreifen – offenherzigen Erzählungen der Crème de la Crème der mexikanisch-texanischen Folkmusik kommt keiner mehr vorbei. An der Szene Interessierte erhalten wie schon in den Vorgängern Telling Stories, Writing Songs: An Album of Texas Songwriters (2001) und Women in Texas Music: Stories and Songs (2013) ein ausgezeichnetes, fundiertes und lesenswertes Standardwerk.
Martin Wimmer
HUDSON, KATHLEEN A.:
Corazón Abierto : Mexican American Voices in Texas Music. – College Station, TX : Texas A & M Univ. Pr., 2022. – 254 S. : mit s/w-Fotos
ISBN 978-1-62349-902-0
30,00 USD
Bezug: www.tamupress.com
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