Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht! Auf die Künste angewandt, will uns das afrikanische Sprichwort sagen: Kreativität kann man weder erzwingen noch forcieren. Inspiration stellt sich auf mysteriöse Weise irgendwann und irgendwie ein – oder auch nicht. Darum lässt sich Natalie Merchant Zeit. Seit Längerem vermochte die amerikanische Singer/Songwriterin keine Lieder mehr zu schreiben, bis ihr während der Pandemie die Songs nur so zuflogen, von denen sie nun neun (plus eine Coverversion von „Hunting The Wren“ der irischen Folkgruppe Lankum) auf ihr aktuelles Album bannte. Ein Gedichtband des schottischen Poeten Robin Robertson hatte Merchants poetische Schöpferkraft neu entfacht. Es ist das neunte Album der Ex-Sängerin der 10.000 Maniacs und das erste mit neuen Liedern seit neun Jahren. Alle Songs kreisen um das Thema „Liebe“, weniger um die erotische als um die vielfältigen Formen und Facetten von Liebe und Zuneigung im Allgemeinen. Musikalisch zieht Merchant alle Register. Ob Motown-Bläsersatz, Klassikorchester, Folkgruppe oder Kammerensemble – jedes Lied ist mit einem Arrangement versehen, das keinen Aufwand scheut und jeweils ein anderes Flair versprüht. Manchmal opulent, dann wieder sparsam, schafft das eine Kulisse, die den Gesang optimal zur Geltung bringt. Zum Auftakt singt Merchant zwei Nummern im Duett mit der afroamerikanischen Sängerin Abena Koomson-Davis, danach stimmt sie jeden Song alleine an. Merchants Gesang ist so ausdrucksstark wie immer, ihre Melodien besitzen nicht selten Ohrwurmqualität. Die kehlige Intonation gibt den Songs Überzeugungskraft, wobei in der Melancholie immer auch ein Quäntchen Trost mitschwingt, was Mut macht in einer Gegenwart, in denen „jeder so verwirrt ist“, wie Merchant im Song mit dem bezeichnenden Titel „Tower Of Babel“ klagt. Keep Your Courage wirkt als Ermunterung in düsteren Zeiten.
Christoph Wagner
Foto oben: Jacob Blickenstaff
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