Natürlich ist dieses Werk keine „Philosophie“ des Songs – eine typisch falsche Dylan-Fährte –, sondern eine Essaysammlung über 66 ganz subjektiv ausgewählte Lieder, die Dylan wichtig sind und anhand derer er uns etwas über die amerikanische Populärmusik erzählen will. Dass dabei nur vier Songs von Frauen stammen, ist natürlich ärgerlich und zu kritisieren, sollte aber nicht von der Lektüre dieses lesenswerten und unterhaltsamen Buches abhalten. Die Auswahl erstreckt sich von Stephen Fosters „Nelly Was A Lady“ von 1849 über Croonertitel wie Frank Sinatras „Strangers In The Night“ oder die Songs afroamerikanischer Künstler und Künstlerinnen wie Jimmy Reed und Nina Simone bis hin zu Countryliedern wie Johnny Cashs „Big River“. Bob Dylans Essays lesen sich mehrheitlich wohlreflektiert, souverän und scharfsichtig. Er schreibt assoziativ, exemplarisch, alltagskulturell und humorvoll. In ein paar Texten wirkt er stellenweise misogyn, an vielen anderen Stellen wiederum aber ist er erstaunlich empathisch. Lesenswert ist sein Exkurs über amerikanische Außen- und Kriegspolitik anhand des Songs „War“ von Edwin Starr. Engagiert setzt er sich für die Rechte der Native Americans in seinem Essay über „Doesn’t Hurt Anymore“ und John Trudell ein. Ebenso versöhnlich wie souverän ist sein Essay über Pete Seegers „Waist Deep In The Big Muddy“, in dem er über die Wirkung von Protestsongs und die heutigen Medien nachdenkt. Nicht unterschlagen werden sollte zu guter Letzt, dass Dylans Sprache auch auf Deutsch solch eine faszinierende Wirkung entfaltet, weil Conny Lösch eine wirklich kongeniale Übersetzung abgeliefert hat. Auch deswegen ist das Werk in seiner deutschsprachigen Ausgabe eines der besten Musikbücher der letzten Jahre.
Thomas Waldherr
Bob Dylan: Die Philosophie des modernen Songs. – München : Beck, 2022. – 352 S. : mit zahlr. Fotos u. Abb.
ISBN 978-3-406-79284-7 – 35,00 EUR
Bezug: chbeck.de
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