Sie kommen aus Rapa Nui, Aotearoa, Taiwan, Sarawak, Madagaskar, von den Salomonen und aus vielen weiteren Inselgebieten des Pazifischen und Indischen Ozeans. In einem weitverzweigten Projekt zeigen fünfzig Musiker und Musikerinnen die Stärke der austronesischen Kultur, die Verletzlichkeit der Weltmeere und des Regenwalds. „Small Island Big Song“ ist nicht nur eine bunte exotische Show. Es ist ein letzter Appell an uns alle.
Text: Stefan Franzen; Titelfoto: Michael Pohl
„Manche sagen, der Ozean trennt uns. Wir sagen: Der Ozean vereint uns.“ So steht es auf der Leinwand des Rudolstädter Theaters, auf der Clips aus dem Pazifischen und Indischen Ozean laufen. Eine Reise durch Inseln und Riffe, durch den Regenwald, entlang von Flüssen, Reisfeldern und in Dörfer der Ureinwohner, durch die Habitate von Leguanen und Lemuren. Davor, auf der Bühne, ein verwirrend vielschichtiges Geschehen: Neun Musiker in leuchtend bunten Kleidern, mit großartigem Kopfschmuck und Körperbemalung vereinen sich zu kraftgeladenen, mal archaisch beschwörenden, mal fast poppigen Chorgesängen. Doch da sind auch zarte Elemente, Mondlieder, Schlaflieder, das Hauchen von Nasenflöten. Eine Vielzahl an Schlaginstrumenten, Muschelhörnern, Bambusflöten, Schwirrhölzern, Zithern und Lauten kommt zum Einsatz, untermalt wird die Musik von Naturklänge, Vogelgesang, dem Gluckern von Wasserläufen und immer wieder: dem Tosen der Wellen. Doch der Ozean ruckelt. Via Laptop eingespielt vom australischen Musikproduzenten Tim Cole, setzt das Brausen immer wieder für Sekundenbruchteile aus, als wolle sich dieser gewaltige Sound mit keiner noch so großen Rechnerleistung einfangen lassen. Und irgendwie ist das auch ein unfreiwilliges Symbol dafür, dass mit unseren Weltmeeren etwas nicht stimmt.
„Wir wollen nicht unsere Unterschiede herausstreichen, sondern unsere Gemeinsamkeiten.“
Was sich hier beim Rudolstadt-Festival abspielt, ist eine genauso eindrückliche wie friedliche Machtdemonstration einer der ältesten Kulturen der Menschheit. Es ist zugleich die mit dem größten Territorium überhaupt und mit der sechstgrößten Sprachfamilie der Erde. Small Island Big Song, kurz SIBS, nennt sich das Projekt, in dem Cole und seine taiwanesische Frau, die Projektmanagerin BaoBao Chen, indigene Musiker aus Rapa Nui (Osterinsel), Aotearoa (Neuseeland), Taiwan, Sarawak (Nordborneo), Madagaskar, von den Salomonen und vielen weiteren Inseln zusammenbringen. „Es ist faszinierend, dass vor fünftausend Jahren, also vor dem Bau der ägyptischen Pyramiden, eine Gruppe von Menschen die Technologie, Navigationskunst und den Mut besaß, von Taiwan aufs offene Meer hinauszufahren“, sagt Cole. „Für sie muss das gewesen sein wie für uns heute eine Reise zum Mars.“ Die austronesische Kultur – zu ihr zählen unter anderem Poly-, Mela- und Mikronesien – hat sich bis 1100 nach Christus immer weiter im ganzen Pazifik und Indik verbreitet, von den Philippinen über Malaysia nach Madagaskar, von Fidschi über Tahiti bis nach Hawaii und Rapa Nui, zuletzt nach Neuseeland – über 22.000 Kilometer. Das Drehbuch ihrer Geschichte schrieb also gewissermaßen der Ozean selbst.
Zumindest den Älteren von uns hat man im Schulunterricht beigebracht, dass der portugiesische Entdecker Ferdinand Magellan, dessen Erdumsegelung sich gerade zum fünfhundertsten Mal jährt, als Erster den pazifischen Raum durchmessen hat. Es ist längst überfällig, diese eurozentrische Perspektive über Bord zu werfen. „Noch heute haben wir überall ähnliche Wörter für die Zahlen“, sagt Charles Maimarosia, der den A’re A’re von der Salomoneninsel Malaita angehört. Der Sänger und Spieler von Bambusflöten und mannshoher, getrommelter Bambusrohre ist zum Interview im Heinepark mitgekommen. Eben noch in muschelbesetztem Outfit auf der Bühne des Kinderfestes, fröstelt er jetzt mit Pullover und Baseballkappe im kühlen Sommerwind. „Auch die Wörter für andere, täglich verwendete Begriffe wie mata, ‚Augen‘, sind überall gleich. Wir wollen nicht unsere Unterschiede herausstreichen, sondern unsere Gemeinsamkeiten. Und die Musik ist Teil der Menschheit, seit sie existiert.“ Die Vielfalt in der Gemeinsamkeit zu feiern: Das ist die Philosophie des Projekts Small Island Big Song. Doch die koordinierende Kraft dafür kam wie so oft bei Weltmusikprojekten nicht von den Indigenen selbst.
Niedergeschlagen von den Berichten darüber, wie sich Erderhitzung und Plastikvermüllung auf die Ozeane auswirken, beschlossen BaoBao Chen und Tim Cole vor vier Jahren, ihre Organisationstalente zu nutzen und auf die düsteren Zukunftsaussichten mit einer kulturellen Gegenkraft zu antworten. „Wissenschaftler liefern seit Langem Fakten und Lösungen, aber niemand hört richtig zu“, sagt Chen. „Wir haben die Gabe, mit den Musikern eine Geschichte zu erzählen, und wenn wir so die Menschen übers Herz ansprechen, können wir vielleicht eine nachhaltigere Veränderung anstoßen.“ Immer wieder fällt im Interview ein Wort, das für die Austronesier zentral ist: Mana kann man mit „Verantwortung“, aber auch mit „Integrität“, „Anerkennung“ übersetzen. „Wir wollten, dass so viel mana wie möglich in unserem Projekt ist“, sagt Cole. „Deshalb haben wir Künstler ausgewählt, die auf ihrer jeweiligen Insel als Wächter der Kultur gelten, und sie gebeten, einen Song in ihrer Umgebung, draußen in der Natur einzuspielen und dann mit den anderen zu teilen.“
Von den vielen Beteiligten, allesamt ganz verschiedene starke Persönlichkeiten, können wir hier leider nur einige herausgreifen. Ganz zentral ist etwa eine der drei taiwanesischen Musikerinnen und Musiker, Siao-Chun Tai. Sie gehört zu den Paiwan, einem von sechzehn auf Taiwan lebenden indigenen Völkern, die zum Teil immer noch um ihre Anerkennung von offizieller Regierungsseite kämpfen. „Die Paiwan sind gewöhnlich eher introvertiert“, sagt sie, „daher sind unsere Lieder auch eher statisch und wir verwenden eine Menge Metaphern in den Texten. Wenn wir zum Beispiel einen hübschen und talentierten Mann preisen wollen, tun wir das mit der Umschreibung ‚erstklassige Zypresse‘, eine solche Frau würde ‚bunter Schnellkäfer‘ genannt werden. Selbst in Liebesliedern stellen wir also einen Bezug zur Natur her.“ Es gehört zu den ergreifendsten Momenten einer Small-Island-Big-Song-Show, wenn Siao-Chun Tai mit ihrer dunklen Stimme ihr Lied „Senasenai A Mapuljat“ anstimmt, im begleitenden Video dazu schaut sie bei Mondschein auf den Ozean hinaus, singt von der Verwandtschaft der austronesischen Völker, deren Vorfahren einst von diesem Strand aufbrachen. Eine Verwandtschaft, die auch heute noch auf Taiwan gespürt wird: Als Charles Maimarosia vor zwanzig Jahren mit seiner Yumi Yet Bamboo Band auf die Insel kam, vergaß die Gruppe dort eines ihrer Bambusinstrumente. Die Einheimischen kannten solche Instrumente noch von alten Fotos, aber das Wissen um die Fertigung und das Spiel war bereits abhandengekommen. Dank dieses einen Instruments konnte die Tradition wiederbelebt werden, und heute gibt es bereits einen ganzen Park zu Ehren der „Bamboos“ an der Ostküste.
„Wenn wir über kulturelles Erbe sprechen, betrifft das genauso die Umwelt. Auch die Natur ist unser Erbe.“
Instrumentenkunde ist neben dem omnipräsenten Naturbezug ein spannendes Kapitel in den austronesischen Verflechtungen, und wir finden sie auch bei der SIBS-Musikerin Alena Murang aus Sarawak, dem malaysischen Teil Borneos. Die aussterbende Pagang, die in ihrem Kelabit-Dorf noch gespielt wird, ist eine frühe Verwandte der madagassischen Röhrenzither Valiha, die Sammy Samoela in der Band virtuos einbringt. Murangs Hauptinstrument ist aber die Sape, eine bootsförmige Laute, die bis zur Christianisierung bei Heilungszeremonien verwendet wurde und einen zärtlichen, beruhigenden Klang hat. Mit der Sape sorgt sie für eine bewegende Facette bei SIBS, wenn sie zu Ehren des Flusses, an dem sie geboren wurde, das Stück „Pemung Jae“ anstimmt. Alena Murang bezeichnet sich als „kulturelle Aktivistin“ und steht zwischen den Welten: Ihr Vater ist Kelabit, ihre Mutter eine angloitalienische Ethnologin, und sie selbst versucht, die Kultur der Kelabit sowohl forschend als auch ausübend zu bewahren, in Musik und bildender Kunst. „Ein Großteil meiner Arbeit besteht darin, mit den Alten zusammenzusitzen, ihr Vertrauen zu gewinnen und einfach zuzuhören, was sie mir weitergeben wollen. Seit der Generation meiner Großeltern haben wir gewaltige Veränderungen durchgemacht, etwa was die Glaubenswelt und den Übergang vom Dorf- zum Stadtleben betrifft.“ Murang lebt zwar in Kuala Lumpur, kehrt aber zur Reisernte, die bei den Kelabit als heilig gilt, in ihr Dorf zurück oder auch, um neue Lieder zu lernen, die sie in die Arbeit mit SIBS einbringt. Hoffnung macht ihr, dass wie zuvor schon in Kanada oder Neuseeland nun auch auf Borneo junge Indigene anfangen, Fragen nach ihrer wahren Geschichte zu stellen und diese aufarbeiten. Die Natur ist dabei ganz zentral: „Wenn wir über kulturelles Erbe sprechen“, so Murang, die sich auch für den Schutz der Ozeane einsetzt, „dann betrifft das genauso die Umwelt. Auch die Natur ist unser Erbe.“ Eine Erkenntnis, die sich schnell durchsetzen muss: Drei Viertel des Regenwaldes von Sarawak, des ältesten der Erde, sind von Abholzung bedroht oder bereits vernichtet.
Wohin unkontrolliertes Fällen von Bäumen führt, dafür gibt es im Pazifik ein historisches Beispiel: Zum Kanubau und Ofenbefeuern haben die Bewohner in früheren Jahrhunderten die einst dicht bewaldete Osterinsel komplett gerodet. Nach der landschaftlichen Verödung sind die mythischen Moai-Statuen heute das Pfund, mit dem das Eiland wuchert. Yoyo Tuki ist der einzige Musiker der knapp sechstausend Einwohner zählenden Insel, der seine – schon lange mit Pop flirtende – Botschaft von der Erhaltung der Inselkultur um die Welt trägt. So ist Tuki der „Hit-Maker“ von SIBS: Mit „Ka Va’Ai Mai Koe“ hat er der All-Star-Band einen Ohrwurm im Reggae-Gewand geliefert. „Wie überall im Pazifik ist Reggae auch auf Rapa Nui sehr beliebt, und ich sehe mich als zeitgenössischen Songwriter, der solche Einflüsse miteinbezieht.“ Tukis Transportmittel dafür sind eine Ukulele und eine charismatische Stimme, die auf der Bühne vor allem im Trio mit Charles Maimarosias Bambusbass und dem berühmten Einschüchterungstanz Haka des Maori-Sängers Jerome Kavanagh eine virile Wechselwirkung entfaltet. Seine Texte sind von der Lebenserfahrung der Rapa-Nui-Community geprägt, die auch heute wieder mit Umweltproblemen zu kämpfen hat. „Wir leiden zwar nicht unter dem steigenden Meeresspiegel wie andere Pazifikinseln, aber es wird eine unglaubliche Menge Müll aus Asien, Amerika und Europa an unsere Küsten gespült. Wir müssen die einsammeln und auf Schiffen nach Chile zurückschicken. Fische und Schildkröten konsumieren das Plastik und verenden daran.“ Die unkontrollierte Einfuhr von Autos und die Flut an Touristen sind weitere Probleme. Gerade die Erlebnisreisenden zerstören den unberührten Charakter Rapa Nuis. „Meine Rolle ist es, die junge Generation weltweit zu erreichen“, sagt Yoyo Tuki, „ihnen von unserer Identität und den Werten zu erzählen, die durch die moderne Lebensweise weggefegt wird.“
Auch auf der CD von Small Island Big Song ist die Natur stets präsent. Achtzehn Stücke wurden schon vor den ersten Livekonzerten von Tim Cole zu regelrechten Mosaiken zusammengefügt – mit insgesamt fünfzig Musikern, die nicht alle Teil der Shows sein können. „Es war fast unmöglich, eine Entscheidung zu treffen, in welche Reihenfolge wir die Songs bringen sollten“, erinnert sich Cole. „Letztendlich haben uns die Naturgeräusche, die wir immer mit aufgenommen haben und die wie ein weiterer Musiker wirken, die Entscheidung abgenommen. Erst kommen Stücke, die im Regenwald angesiedelt sind, dann sind die Wassersounds in den Mangroven und an Flüssen Thema, schließlich geht es zum Ozean.“ Zu jedem Track gibt es außerdem einen Film, die ganze Sammlung von Clips ist online zu sehen. Dort antwortet etwa die taiwanesische Sängerin Ado Kaliting Pacidal nach einem Taifun am Strand auf eine Röhrenzither aus Madagaskar. Und der Rapper Sandro vom madagassischen Volk der Vezo vereint sich in „Gasikara“ mit seinem Kollegen Mau Power von den Torres-Strait-Inseln zwischen Australien und Papua-Neuguinea zu einer Klage über das Verschwinden von Korallenriffen.
Small Island Big Song in Rudolstadt 2019
Foto: Kai Eisentraut
Ein Problem des ganzen ozeanischen Raumes: Charles Maimarosia ist es, der zum Ende des Interviews als unmittelbar von der Klimakatastrophe Betroffener einen Einblick in seinen Alltag gibt. „Auf der Salomonen-Insel Guadalcanal sind die Korallen seit einigen Jahren bleich, es ist kein Leben mehr in ihnen, der Laichraum für die kleinen Fische ist zerstört. Außerdem beobachten wir, dass das Wasser jedes Jahr steigt, es hat das Grasland überflutet, wo früher unsere Hütten standen. Wir können nirgendwo anders hin, Papiere für andere Staaten bekommen wir nicht. Irgendwann wird es zur Überbevölkerung kommen, wir müssen unsere Zukunft mit großem Bedacht planen.“
Die Austronesier haben über Jahrtausende stets im Einklang und in Nachhaltigkeit mit der sie umgebenden Natur gelebt. Mit der internationalen Arbeit von SIBS geht jetzt ein bereits altbekanntes Dilemma der Globalisierung einher: Um die riesigen Distanzen zu überbrücken und im Teamwork ihre Botschaft um die Welt tragen zu können, muss der Musikertross etliche Langstreckenflüge absolvieren. Trotzdem werden das „Peanuts“ sein im Vergleich zum Schaden, den der Westen in ihren Regionen anrichtet. Letztendlich sind wir es, die darüber entscheiden, ob dieses kulturelle Netzwerk überleben oder an unserem Wohlstand zugrunde gehen wird – mit jeder Kreuzfahrt, jedem Flug und jedem Stück Plastikmüll.
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