Hierzulande ist er kaum bekannt. Doch in seiner Heimat den USA gilt er nicht nur unter Kollegen und Kolleginnen als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Singer/Songwriter. Seit fast vier Jahrzehnten steigt Joe Henry als Komponist und Produzent in die seelischen Tiefen des Lebens hinab, um wunderbare poetische Lieder voller Hoffnung zu kreieren. Und dabei macht er auch vor seinem eigenen Schicksal nicht halt.
Text: Erik Prochnow; Fotos: Jacob Blickenstaff
Eigentlich sollte er längst nicht mehr da sein. Drei Monate, bestenfalls sieben, gaben ihm die Ärzte, als bei Joe Henry im November 2018 Prostatakrebs des höchsten Grades diagnostiziert wurde. Doch fast fünf Jahre später ist der amerikanische Singer/Songwriter nicht nur noch am Leben. Er ist kreativer und aktiver denn je. „Ich sprach sehr gut auf die Behandlung an und erholte mich schnell. Die Symptome sind verschwunden, und ich fühle mich gut“, sagt der 62-Jährige, der mit seinem aktuellen Album All The Eye Can See gerade viel Aufsehen erregt.
Eine Erleichterung nicht nur für ihn und seine Familie. Das gesamte Folk-, Americana- und Singer/Songwriter-Genre atmet auf. Denn Henry gilt in diesem Bereich, fast unbemerkt für die deutsche Musikgemeinde, als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten und Produzenten. Viele stellen seine poetischen Texte auf eine Stufe mit denen Bob Dylans, Leonard Cohens, Tom Waits’, Robbie Robertsons oder Randy Newmans. Neben seinen sechzehn eigenen Alben schrieb er auch zahlreiche Songs für andere Musikschaffende wie Rosanne Cash, John Denver oder Madonna, mit deren Schwester Melanie er seit 1987 verheiratet ist. Madonnas Song „Don’t Tell Me“ basiert auf Henrys Komposition „Stop“ von seinem hochgelobten Album Scar aus dem Jahr 2001 und erreichte in vielen Ländern die Spitze der Top Ten. Einen Namen hat sich Henry aber vor allem als Produzent erworben. Die illustre Liste an Künstlern und Künstlerinnen, deren Alben er betreute ist lang und umfasst unter anderen Bonnie Raitt, Elvis Costello, Ani DiFranco, Rhiannon Giddens, Billy Bragg, The Milk Carton Kids, Joan Baez, Emmylou Harris oder Allen Toussaint. Für die Produktionen mit Solomon Burke, Ramblin’ Jack Elliott und den Carolina Chocolate Drops gewann er sogar drei Grammys. „Eine ruhige Präsenz, auf die ich mich verlassen kann, wenn es um die Wahrheit geht“, fasst Joan Baez das Geheimnis von Henrys einfühlsamer Arbeit als Produzent zusammen.
J. B.s Hauptthema als Grafiker sind „Musikalien“: Musiker und Musikerinnen aus aller Welt, ihre/unsere Kunst und die Instrumente dafür. Wen wundert’s bei einem derart passionierten Musikanten wie ihm, der aus Plauen im Vogtland stammt, dem Zentrum des sächsischen Musikwinkels, und der seinen Lebensmittelpunkt seit fast fünfzig Jahren in Leipzig hat?
Der Studienzeit an der dortigen Hochschule für Grafik und Buchkunst ging eine Druckerlehre voraus. „Er hat sein Handwerk von der Pike auf gelernt“, hieß es früher. Gute Voraussetzungen für ein Studium der Buchgestaltung. Sein Dreifachtalent: Zeichnen, Musizieren und Schreiben lebte Jürgen schon damals exzessiv aus. Auf Kosten der Gesundheit. Viel Zeit verhockt, vergeigt und verraucht, aus vielen Flaschen den Geist rausgelassen.
Die Leidenschaft für die Musik infizierte den am 2. Dezember 1960 in Charlotte, North Carolina, geborenen Liedermacher bereits früh. Weil die Familie wegen des Berufs seines Vaters, der für Chevrolet arbeitete, viel umzog, fiel es Henry schwer in seiner Jugend Freundschaften zu knüpfen. Die Musik wurde daher für ihn eine Zuflucht. Mit elf Jahren entdecket er Bob Dylan und Randy Newman und fing an, sich das Spiel auf der Gitarre sowie dem Piano selbst beizubringen. „Als ich zum ersten Mal bewusst Bob Dylan hörte, fühlte ich instinktiv eine Einladung, genauso wie später bei Randy Newman, und es elektrisierte mich nicht nur als Zuhörer, sondern als jemand, der auch ein Schöpfer sein wollte“, blickt der Musiker zurück. Er las Schriftsteller wie Buckminster Fuller, Gabriel García Márquez, Flannery O’Connor oder Wallace Stevens und begann seine eigenen Gedichte zu schreiben. In Michigan schließlich traf er nicht nur seine zukünftige Frau Melanie, sondern fand in der Schule auch Freunde, die ihn ermunterten, seine eigenen Lieder zu spielen. Mitte der Achtziger erhielt er einen Vertrag beim Label A&Records und veröffentlichte zwei Alben. Während er sicher auch aufgrund seiner begrenzten, aber sehr markanten Stimme am Anfang eher wie Tom Waits oder John Hiatt klang, bewegte sich Henry auf seinem von T Bone Burnett produzierten zweiten Album Shuffletown mehr in Richtung Country.
Doch als A&M ihm plötzlich den Vertrag kündigte, stand er vor dem Nichts. Da eröffnete ihm Burnett mit einer Anstellung als Produktionsassistenten ein zweites Standbein. Parallel entfaltete Henry mit dessen Hilfe und später auch der des Produzenten Daniel Lanois sein großes Talent als Songschreiber. Obwohl er im Geiste des Great American Songbook komponiert, lassen sich Henrys Songs nicht wirklich einordnen. Eingebettet in Folk und den Blues sind seine balladesken Texte oft geheimnisvoll, ja manchmal kryptisch, voller unerwarteter Wendungen und gleichzeitig tief berührend, herausfordernd, das eigene Leben reflektierend. „Ich schreibe viele Dinge, die ich nicht erklären kann, aber ich fühle, dass sie richtig sind“, sagt Henry über sein intuitives, poetisches Spiel mit der Sprache, das offen für Interpretationen ist. Er kann sich nicht daran erinnern, dass er jemals eine Idee, eine Intention für ein Lied gehabt hätte. „Ich weiß nur, dass wenn ich beginne zu schreiben, ein Lied geschieht“, so der Musiker. Viele seiner Kollegen wie Jackson Browne, Lucinda Williams oder der verstorbene John Prine bewundern ihn für seine sehr bewegende melancholische, aber Hoffnung spendende Kunst.
Dennoch ist das Songwriting für Henry kein völlig zufälliger Prozess, sondern bedeutet vor allem Disziplin. „Ich versuche jeden Tag etwas zu schreiben – ohne mich zu quälen –, egal ob es ein Lied ist oder nicht. Und in allem, auch wenn es ein Brief ist, lausche ich der Musikalität der Worte“, beschreibt der Künstler seine Arbeitsweise. Angetrieben wird er dabei seit den Anfängen als Dichter von den Fragen, wie sich die Menschen den Herausforderungen des Lebens stellen, ihren Ängsten begegnen und als Gemeinschaft zusammenkommen. „Ein Großteil unseres Lebens leben wir im Schatten der Unsicherheit, des Zweifels und der Angst und ich habe das Gefühl, man muss in diesem Schatten, in diesem Mysterium des Lebens verschwinden, wenn man darüber schreiben will“, erläutert Henry.
Sein Anfang 2023 erschienenes Album All The Eye Can See ist bislang vielleicht die beste Demonstration seiner poetischen Dichtkunst. In den zwölf sehr intimen, oft zerbrechlich wirkenden Songs malt Henry visionäre Bilder, die unter die Oberfläche des Lebens tauchen und die Tiefen von Angst, Hoffnung, Verlust, Liebe, Einsamkeit und Gemeinschaft erkunden. Den Tod seiner Mutter, seine eigene Krankheit und das Chaos in der Welt hat er darin verarbeitet. Trotz seiner Experimentierfreude mit Technik liebt Henry die Einfachheit und das Aufnehmen von Livetakes mit der Band. Da das während des Lockdowns in der Pandemie jedoch nicht möglich war, musste er eine neue Form der Aufnahme entwickeln. Entgegen seiner Gewohnheit, sammelte er diesmal nicht alle Lieder, bis er ein Album zusammen hatte, sondern nahm jeden neuen Song sofort mit Gesang und Gitarre in Los Angeles, wo er zu der Zeit lebte, auf und verschickte die digitalen Files an Musikfreunde und -freundinnen, die ebenfalls zu Hause gestrandet waren. „Ich fragte sie, ob sie zu dem jeweiligen Stück etwas Neues beitragen könnten“, erzählt Henry. Das Ergebnis ist exzellenter Kammerfolk. Die meditativen Klanggedichte ziehen den Hörer fast magisch in seine Geschichten hinein, um sich selbst und Hoffnung zu finden. „Es war meine Gesundheitskrise, die meine Prioritäten verändert und mich durchlässiger gemacht hat. Ich erlaubte es mir, meine eigenen Ängste stärker in den kreativen Prozess einfließen zu lassen, als ich es früher getan habe“, sagt der Musiker über das Entstehen der Lieder.
Joe Henry
Foto: Jacob Blickenstaff
Vor allem nach seiner Diagnose im November vor fünf Jahren fühlte er sich durch die Angst und Traurigkeit wie gelähmt. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit war er nicht in der Lage, Musik zu komponieren. Er schrieb, aber nur Gedichte. Doch im Februar 2019 tauchte wieder das erste Lied auf. In „In Time for Tomorrow“ schaut Henry auf das Ende des Lebens und lächelt. Es war der Beginn von dreizehn Stücken, die er in drei Monaten fertigschrieb und unter anderem mithilfe seines Sohnes, des Saxofonisten Levon Henry, eigentlich nur als Demos aufnahm. Doch beim Anhören realisierte der Singer/Songwriter, „dass ich nicht direkter und näher an der Wahrheit sein konnte, mit allem was ich sagen wollte“. Also beließ er die Aufnahmen so, wie sie waren, und veröffentlichte sie unter dem Namen The Gospel According To Water. Das zutiefst bewegende Album ist Spiegelbild für seine fundamental veränderte Lebensphilosophie seit der Diagnose. „Ich kann nicht wissen, wie sich mein Leben entwickeln wird, aber ich kann wählen, ob mich der Terror auffrisst oder nicht“, sagt der heute im Bundesstaat Maine lebende Musiker. Seitdem hat er nicht nur seine Karriere geordnet. Im vergangenen Jahr veröffentlichte er alle seine Songtexte in dem Buch Unspeakable: The Collected Lyrics of Joe Henry, 1985-2020. Er macht vor allem das, was er gut kann und was seine Leidenschaft ist: Henry komponiert unaufhörlich und geht regelmäßig auf Tour. Im Herbst 2023 auch wieder in Europa. Ganz so als ob er zeigen wolle, sein Leben sei noch längst nicht auserzählt und es warteten noch viele Geschichten, die aus seiner Feder zu Liedern werden wollen.
Auswahldiskografie:
All The Eye You Can See (Edel/Ear Music 2023)The Gospel According To Water (Ear Music, 2019)
Reverie (Anti- Records, 2011)
Civilians (Anti- Records, 2007)
Scar (Mammoth Records, 2001)
em>Trampoline (Mammoth, 1996)
Kindness Of The World (Mammoth, 1993)
Shuffletown (A&M Records, 1990)
Videolinks:
„All The Eye Can See“ vom gleichnamigen Album: www.youtube.com/watch?v=wp5KxJP17qc
„In Time For Tomorrow“ vom Album The Gospel According To Water www.youtube.com/watch?v=U-doEDprb5U
„The L&N Don’t Stop Here Anymore“ mit Billy Bragg: www.youtube.com/watch?v=GtlXwj80OWM
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