Viljandi Folk Music Festival XXXI

Ein Fest für alle Sinne, Viljandi, Estland, 25.-28.7.2024

24. September 2024

Lesezeit: 3 Minute(n)

Die Rate der Wiederholungstäter, die es immer wieder in den kleinen estnischen Ort zieht, ist riesig. Das Viljandi Folk Music Festival ist und bleibt eben eine grandiose Veranstaltung, die alle Zutaten eines gelungenen Wochenendes besitzt – umweltbewusst, friedlich und so gut wie ohne Müll. Ein wenig Statistik zuerst: An vier Tagen wurden 27.000 Tickets verkauft.
Text: Mike Kamp

Popularitätsvizemeister wurde das verrückte Duo Puuluup (Gäste in Rudolstatdt 2018), welches mit seinen Streichharfen Talharpa und jeder Menge Elektronik anlässlich seines zehnten Viljandi-Besuches rund 7.000 Menschen anzog. Das wurde nur übertroffen von einer weiteren estnischen Supergruppe. Trad.Attack! (ebenfalls Gäste in Rudolstadt, aber 2022) konnten bei ihrem Konzert zwischen 8.000 und 9.000 Besuchende vermelden.

Rüüt

Foto: Kirke Kuiv

9 Bühnen, fast 500 Künstler und Künstlerinnen, 70 Konzerte von 65 Acts, von denen nur 11 von außerhalb kamen. Gerade Letzteres sorgt für einen besonderen Reiz: Estland präsentiert sich mit seiner reichhaltigen traditionellen Kulturlandschaft von seiner besten Seite. Das Spektrum reicht von der überaus populären Gruppe Zetod mit ihrem Heavy-Pop-Rock-Folk inklusive Folklorehemd und Käppi bis hin zu Workshops mit der intimen Männersinggruppe (es gibt auch ein weibliches Äquivalent), bei der sich 50 bis 60 Männer morgens um 11.00 Uhr zum Bier im Saal einer Kneipe treffen, um gemeinsam zu singen. Der Vorsänger tut seinen Job, und alle, wirklich alle singen nach, egal ob Punker oder Langhaariger mit Metallica-T-Shirt oder der estnischen Sprache nicht mächtige Reporter. Diese Bandbreite, gepaart mit der ausgeklügelten Infrastruktur und der wunderschönen Optik des weitläufigen Festivalgeländes, machen den Reiz und den Erfolg des Viljandi Folk Music Festivals aus.

Duo Ruut

Foto: Martin Kosseson

 

Auch wenn man die Band Angus vom Namen her eher in Schottland verorten würde, sind das tatsächlich sieben „local heroes“, deren Reggaerock gerade beim sehr großen jungen Teil des Publikums ungemein populär ist. Auch aus Estland, aber eher ein wenig vom Bluegrass beeinflusst, ist das Quartett Curly Strings, die sich ebenfalls schon die Ehre in Rudolstadt gaben. Absicht oder Zufall? Das Duo Ruut (auch bekannt aus Rudolstadt, zwei Kantelespielerinnen, die sich gegenüberstehen, siehe auch Artikel in folker #4.23 und die Gruppe Rüüt spielten hintereinander auf der gleichen Bühne, wobei letztere Gruppe beim deutschen Label Nordic Notes veröffentlicht.

Der Anteil rein weiblicher Bands war ziemlich hoch und beweist die funktionierende kulturelle Gleichberechtigung im Land. Großartiger Gesang ohne technischen oder sonstigen Firlefanz boten The Baltic Sisters aus Estland, Lettland und Litauen, die mit der seltenen Clay Bird Whistle arbeiteten und das gleich dreimal. Ebenfalls drei Damen (hier aus Estland und Lettland mit Musik zusätzlich aus Finnland) und wiederum drei zumindest ähnliche Instrumente aus der Kantelefamilie, das ist das Konzept der Gruppe The Singing Tree. Relativ zarte Klänge und daher überdacht im Traditional Music Centre, entgegen der Namensvermutung jedoch ohne Gesang. Und erneut drei Damen formen Kuula Hetke & Kelly Vask. Letztere kümmert sich um die elektronischen Klänge, während die beiden Kolleginnen mit Querflöte und Gesang traditionelle Motive improvisierend bearbeiten.

Ach, es gäbe noch so viel zu berichten. Die persönlichen Höhepunkte waren erneut die beiden Konzerte von Ethno Estonia Youth 2024 und Ethno Estonia. Beim ersteren Konzert begeisterten etwa 40 Jungs und Mädels zwischen 13 und 17 Jahren mit traditioneller Musik und deutlichen Rock-, Reggae- und Jazzeinflüssen. Die eigene Freude war auf den Gesichtern ablesbar. Für die fast 60 Teilnehmer des etwas älteren Ethno Estonia hatte man diesmal den wesentlich größeren Song Festival Ground gewählt. Da war einfach mehr Platz für den überschäumenden Enthusiasmus der Handvoll Tutoren und Tutorinnen sowie der Musikschaffenden aus zum Beispiel den USA, Indien oder den Niederlanden, deren beide Melodica-spielende Vertreterinnen besonders viel Spaß hatten.

Publikum

Foto: Peeter Paaver

 

Was ist mit Enttäuschungen? Eigentlich Fehlanzeige, allerdings gab’s wieder Regen zum Abschluss, und besonders schade war, dass Festivaldirektor Ando Kiviberg just an jenem Sonntag seinen 55. Geburtstag „live“ auf der Bühne feiern wollte. Der Schreiber dieser Zeilen zog sich nach einer halben Stunde völlig durchnässt zurück, aber viele hundert Menschen vor der Bühne zeigten deutlich mehr Durchhaltevermögen.

Eine interessante Neuerung: Die „Grüne Bühne“ in der Altstadt und in Hinterhöfen bot Musik, Tanz, Getränke und Essen ohne Eintritt, und dort waren etwa 70 Konzerte zu erleben, häufig mit lokalen Musikschaffenden. Eine Art Appetitanreger, der einige Menschen dazu bewegen könnte, sich nächstes Jahr tatsächlich ein Festivalticket zu kaufen.

Viljandi, was für ein Fest für wirklich alle Sinne!

www.viljandifolk.ee

Aufmacher:
Viljandi Folk Music Festival XXXI, auf der Bühne

Foto: Angus Peeter Paaver

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