„Jede Falte erzählt eine Geschichte, jedes graue Haar singt ein Lied.“ Dieser Spruch eines Unbekannten scheint wie für den Hamburger Heaven-Can-Wait-Chor geschaffen. Seit nunmehr zwölf Jahren beweist das Seniorenensemble, dass das Alter eine Quelle für Kreativität und Lebensfreude ist.
Text: Erik Prochnow; Fotos: Michaela Markovicova
„Dieser Chor ist der Jungbrunnen für meine Seele“, sagt Evamarie Scheibe und lächelt spitzbübisch auf ihrem Stuhl auf der Bühne des ausverkauften Theaters in Itzehoe. Die 87-Jährige weiß, wie sie das Publikum in den Bann ziehen kann. Leidenschaftlich erzählt sie von ihren Erfahrungen mit Heaven Can Wait, bevor sie mit einer kleinen, die Spannung steigernden Pause das nächste Lied ankündigt: den Hit des Berliner Hip-Hop-Duos SDP „Ne Leiche“.
Seit nun mehr fast zwölf Jahren sorgt der Hamburger Chor für Furore. Denn nicht nur seine Zusammensetzung ist einmalig, auch sein Repertoire. Um Mitglied des Ensembles zu werden, müssen Interessierte mindestens siebzig Jahre alt sein – Gesangserfahrung oder die Kenntnis von Noten ist nicht erforderlich. Zudem singt der Chor die Songs seiner Kinder und Enkelkinder. Aber nicht einfach so. Egal ob das Ensemble mit Rollator oder Stöcken auf die Bühne kommt oder sitzen muss, die Seniorentruppe rockt die Konzertsäle vom ersten Ton an, etwa im Song „Ich scheiß’ auf schlechte Zeiten“ der Sportfreunde Stiller. Sie rappen zu „Traum“ von Cro, tanzen zu Sarah Connors „Wie schön Du bist“ in einem eigenen Arrangement, singen ergreifende Solos in „Das Beste“ von Silbermond oder verwandeln Trios „Da Da Da“ in musikalische paartherapeutische Comedy. „Indem alte Menschen freudvoll die Lieder der Jungen schmettern, entsteht ein Dialog mit dem Publikum, eine Reflektion auf beiden Seiten über das Alter und das eigene Leben“, sagt Jan-Christof Scheibe, Dirigent und Erfinder des Projekts. Besonders freut er sich nicht nur über regelmäßige Standing Ovations, sondern auch wenn „die Menschen im Publikum beginnen, auch die positiven Seiten des Alters zu sehen“.
Ursprünglich wollte er gemeinsam mit Thomas Collien vom St. Pauli Theater in Hamburg eine Show mit Artisten von siebzig bis neunzig Jahren auf die Beine stellen. Als sich das aber als viel zu teuer erwies, entstand die Idee, ein anderes ungewöhnliches Projekt mit Senioren und Seniorinnen aus dem Hamburger Raum zu realisieren. Der Chor war geboren und die Mitglieder wurden durch einen Aufruf im Hamburger Abendblatt gefunden. Heute singen 38 Männer und Frauen mit. Das älteste Mitglied ist 93 Jahre alt. „Wichtig ist, dass unsere Präsentation authentisch ist“, sieht Scheibe die Grundlage für den wachsenden Erfolg. Deshalb arbeitet er auch mit Menschen ab siebzig Jahren und am liebsten mit Laien. „Die haben sich an ihr Rentendasein gewöhnt, wissen was sie wollen und denken auf der Bühne nicht nach, was ihr Gesangslehrer gesagt hat“, so der Chorleiter. Außerdem sei das Projekt sehr fordernd, verlange viele Proben und Reisen sowie die Auseinandersetzung mit Choreografie und Präsentation.
„Dieser Chor ist der Jungbrunnen für meine Seele.“
Das kann Wolf von Matzenau nur bestätigen. „Es ist ein ernsthaftes Hobby. Für das neue Programm proben wir etwa im Januar sechs Tage à fünf Stunden“, sagt der 78-Jährige, der seit zwei Jahren im Chor singt und sich um das Management kümmert. Rund vierzig Konzerte sind für 2025 geplant, und auch 2026 gibt es schon Buchungen. Wegen der großen Nachfrage werden die Veranstaltungsorte immer größer. So soll der Chor im Friedrichstadt-Palast in Berlin, im Dresdner Kulturpalast und bei der Kieler Woche auftreten. Zudem steht ein Konzert beim Kinderärztekongress in der Schweiz und die Aufnahme eines ersten Albums an.
Im Sinne der Gesundheitsförderung ist Heaven Can Wait ein Lichtblick. „Studien belegen, dass regelmäßiges Singen und Spielen im Orchester eine präventive Funktion haben und etwa Demenz vorbeugen können“, erklärt Theresa Demandt, Geschäftsführerin des Bundesmusikverbandes Chor & Orchester (BMCO). Das liege vor allem daran, dass das Musikmachen in Verbindung mit sozialer Interaktion gezielt bestimmte Hirnareale und den gesamten Organismus wie etwa die Atmung, Muskelgruppen oder Artikulation anspreche. 2023 hat der BMCO daher das Förderprojekt „Länger fit durch Musik!“ gestartet, bei dem bis zu vierzig demenzsensible Vokal- und Instrumentalensembles finanziell unterstützt und wissenschaftlich begleitet werden.
„Ich liebe es zu singen, und der Chor hält uns vital und flexibel“, sagt auch Joanne Bell. Die 85-jährige Kalifornierin ist das einzige professionelle Mitglied des Ensembles und von Anfang an dabei. Die studierte Opernsängerin mit der noch immer kraftvollen Stimme beherrscht aber auch Blues, Gospel oder Jazz. Neben dem Chor verfolgt sie auch Soloprojekte. Dennoch muss sie auf ihre Gesundheit achten. Drei Jahre konnte sie nur mit Krücken auf die Bühne, weil sie umgeknickt war. „Man muss das genießen, da man nie weiß, wie lange es noch dauert“, fasst die Sängerin, die seit 1978 in Deutschland lebt, das Motto des Chores zusammen: „Wir leben jetzt.“
Für Chorleiter Scheibe war der Gesundheitsaspekt allerdings nie die Intention für die Gründung des Ensembles. „Für mich ist das ein Nebeneffekt. Mir geht es vor allem darum, schöne Projekte auf die Bühne zu bringen“, sagt der 62-Jährige, der als Comedian, Musiker und Arrangeur bis heute Erfolge feiert. Erst mit der Zeit habe er gemerkt, was da in den Gehirnen der Singenden und der Zuhörenden passiere, wie die Synapsenverschaltungen funktionieren. „Am Anfang hatte ich keine Ahnung, aber inzwischen setze ich Methoden ein, wie man etwa auswendig lernt oder emotionale und wirkliche Intelligenz verbindet“, so Scheibe. „Ich habe gemerkt, dass junge Kultur den Älteren einfach guttut und sie elastisch und offen für Neues hält.“
Diese Überlegungen und die große Nachfrage von jüngeren Menschen, Mitglied im Chor zu werden, inspirierte ihn schließlich zur Gründung der Heaven-Can-Wait-Akademie. „Hier bilden wir unseren Nachwuchs aus“, sagt Scheibe, „denn es ist wichtig für die Älteren herauszufinden, was die Songs der Jüngeren mit ihrem Leben zu tun haben.“ In der Akademie wird aber nicht nur gesungen. Es gibt auch Schauspiel- und Schreibkurse. In letzteren entstehen unter anderem die Titel der Programme oder neue Lieder für den Chor. Denn künftig wird das Projekt zunehmend auch eigene Songs präsentieren.
Voraussetzung für die Teilnahme ist nur der Wunsch, entdecken zu wollen. „Was alle Sänger und Sängerinnen im Chor auszeichnet, ist das große Interesse am Leben und eine Furchtlosigkeit, sich dem Leben zu stellen“, sagt Joanne Bell. Denn schließlich sei der Chor etwas sehr Fragiles. „Man weiß nie, wer in ein oder zwei Jahren noch dabei ist“, bestätigt Scheibe. Die Botschaft des Ensembles sei daher einfach: „Wenn wir schlau sind, geben wir dem heutigen Tag und jedem Moment, in dem wir leben, eine Bedeutsamkeit und Dankbarkeit, denn wir wissen nie, was morgen ist“, so der Dirigent. Alle, die sich wie die Chormitglieder darauf einlassen, seien aus seiner Sicht coole Typen. Und das sei Gesundheitsfürsorge im besten Sinne des Wortes. Scheibe: „Meine große Hoffnung ist, dass wir immer mehr Menschen ermutigen können, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich für Dinge zu interessieren, ohne dass sie das Gefühl haben, etwas zu riskieren.“
www.youtube.com/@heavencanwaitakademie856
Trailer Film: www.youtube.com/watch?v=GeZsaxT3gTg
Aktuelles Medium:
Heaven Can Wait – Wir Leben Jetzt (DVD; Mindjazz Pictures, 2024)
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