Babel Music XP

Ein Update der Traditionen

22. September 2025

Lesezeit: 4 Minute(n)

Die Marseiller Mischung aus Festival und Messe für Weltmusik ist 2025 wie eine Insel der Hoffnung in einer düsteren Welt.

Text: Martina Zimmermann

Kora und Akkordeon sind Ablaye Cissokos Instrumente des Dialogs, des Spezialisten für unerwartete Fusionen (siehe auch Livebericht von 2022). Zu seinen delikaten Kompositionen singt er in der Marseiller Cité de la Musique mit seiner sanft-sonoren Stimme auf Wolof. Immer übernimmt dann Cyrille Brotto die Melodien der Kompositionen auf dem Akkordeon. 2022 kam das erste gemeinsame Album der beiden heraus, das gerade erschienene neueste trägt den Titel Djiyo („Wasser“). Auf der Musikmesse Babel Music XP stellen sie es der Presse, Festivalausrichtenden in aller Welt und anderen Musikprofis sowie dem Marseiller Publikum vor.

Beide Instrumentalisten sind in den Traditionen ihrer jeweiligen Heimaten aufgewachsen. Brotto hat das Spiel des diatonischen Akkordeons auf den Tanzbällen Südfrankreichs gelernt, bevor er sich anderen Musikstilen bis hin zum Hip-Hop öffnete. Der Senegalese Cissoko ist Sohn eines Griots und damit selbst Griot. Diese Musikschaffendenkaste in Westafrika besteht aus Sängern und Sängerinnen, die Geschichte(n) mündlich überliefern.

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Cyrille Brotto und Ablaye Cissoko

Foto: Martina Zimmermann

„Für mich ist es fundamental, diese alten traditionellen Stücke zu adaptieren, zu arrangieren und daraus unsere eigene Kreation zu machen“, erklärt Ablaye Cissoko. „Bevor wir das können, müssen wir die Basis kennen.“ Erst die Kenntnis der Tradition ermögliche Neuschöpfungen, für Cissoko ein „Update der traditionellen Musik“. Auch Cyrille Brotto betrachtet seine Kunst auf diese Weise. „Diese Musik lebt, und ich bin ein Glied in der Kette.“ Er habe das Recht, „so zu spielen, wie ich es höre oder wünsche“. Mit ihren meisterhaft gespielten Improvisationen ziehen sie das Publikum in ihren Bann.

Jubel kommt auch bei ExpéKa auf. Der Name ist eine Zusammensetzung aus „Experiment“ und „Gwo Ka“, des Percussionmusikstils der französischen Karibikinsel Guadeloupe. Im Konzertsaal Espace Julien in Marseille hat sich die Creme der Talente aus der französischen Karibik versammelt. Celia Wa spielt Flöte und singt, sie ist als Chansonsängerin bekannt. Percussionist Sonny Troupé ist Mitglied vieler Bands der Pariser Jazzszene, er spielt Schlagzeug und Tambour Ka. Die Eltern von Rapperin Casey stammen aus Martinique. Ebenfalls die Tambour Ka bedient Olivier Juste, am Bass tätig ist Stéphane Castry, am Keyboard Didier Davidas. Gwo Ka ist die musikalische Basis der Band, aber auch alle anderen traditionellen Stile der Karibik sind in den Kreationen der Musikschaffenden erkennbar, deren drei Protagonisten Wa, Casey und Troupé parallel zum Projekt ihre eigenen Karrieren verfolgen. Casey ist dabei bekannt für ihre große Klappe. „Ich bin in Frankreich aufgewachsen, wo keiner die Geschichte der Karibik kennt“, sagt sie empört. „Man denkt dort an ‚Doudou‘ [‚Schätzchen‘ auf Kreolisch; Anm. d. Verf.], sympathische, freundlich lächelnde Menschen und hüftwiegende Musik.“ Aber keiner weiß, „dass wir von Sklaven abstammen, dass Frankreich auf seinen Inseln Sklaverei betrieben hat, dass es ein ‚schwarzes Gesetzbuch‘ gab [das Schwarzen den Status eines Möbels zuwies; Anm. d. Verf.] und dass das bis heute Konsequenzen für uns hat“.

„Wir müssen erzählen, was passiert ist und was nicht mehr passieren darf.“

Séamus & Caoimhe Uí Fhlatharta

Foto: Martina Zimmermann

Casey besingt auch bei ExpéKa die Lebenswirklichkeit auf den Karibikinseln, rappt über Drogenmissbrauch, ledige Mütter und Misere. Die Bandmitglieder wollen die toten Winkel dieser Geschichte als Französinnen und Franzosen aus der Karibik beleuchten, und das kommt an beim Marseiller Publikum. „Es gibt hier Menschen, die ihren Stammbaum erstellen lassen“, erklärt Casey. „Mein Stammbaum hört am Ufer des Atlantiks auf!“ Sie findet ihre Texte zudem überhaupt nicht engagiert und sagt: „Diese Geschichte müssen wir gemeinsam auflösen, weil es unsere gemeinsame Geschichte ist.“ In einer Zeit des wiederkehrenden Faschismus werden Fragen der Identität immer gewaltsamer auftauchen, prophezeit die Rapperin. „Als Karibikfranzosen müssen wir erzählen, was passiert ist und was nicht mehr passieren darf.“

„In den Neunzigern waren wir die erste Region mit Bürgermeistern des rechtsextremen Front National – in Vitrolles, Marignac, Toulon, Orange“, erinnert Olivier Rey, der Direktor von Babel Music XP. „Sie wollten provenzalische Musik und dass die Menschen sich kleiden wie in den traditionellen Weihnachtskrippen.“ Ganz anders als es traditionelle okzitanische Bands wie Lo Còr de la Plana praktizieren, die eine moderne, zeitgenössische Sicht auf die Musik der Region haben. „Wir haben hier in Marseille diese Geschichte, und leider geht der Kampf weiter“, sagt Rey und verweist auf eine Round-Table-Diskussion im Kreativzentrum Friche la Belle de Mai, die ihm besonders am Herzen liegt: „Neue Narrative traditioneller Musik angesichts aktueller politischer Herausforderungen“.

„Wir überlassen unsere Traditionen nicht den Rechtsextremen.“

Populismus und Nationalismus seien heute verbreiteter und übten mehr Druck aus, stellt der belgische Booker und Projektmanager Eric van Monckhoven fest. Doch für das Mitglied im Aufsichtsrat des European Folk Network ist traditionelle Musik seit jeher „Brücke und Widerstand“, eine lebendige Kraft, und er ergänzt: „Wir überlassen unsere Traditionen nicht den Rechtsextremen.“

Jawa mit Derwisch

Foto: Martina Zimmermann

gälischen Songs nach Marseille. Die Narrative der irischen Folkmusik besängen Leid und Konflikte, meint Sänger Séamus Ó Fhlatharta. „Schließlich waren wir Iren selbst Flüchtlinge und wissen, was Immigration bedeutet.“ – „Unsere Musik hat das Banjo integriert“, fügt Caoimhe Ní Fhlatharta hinzu.

Auch beim Auftritt von Jawa halten die Zuschauer den Atem an. Die sechs Musiker aus Syrien tragen virtuos traditionelle Musik aus Aleppo vor, gespielt auf der Kastenzither Kanun, der Rahmentrommel Bendir sowie auf Geige und Ney-Flöte unter der Leitung des Sängers Khaled Alhafez. Wenn dessen gefühlvoller Sufigesang in rhythmisches Frohlocken übergeht, fängt der Derwisch an zu tanzen und dreht sich, bis sein weißer Rock ihn wie ein Kreisel umringt. Alle Mitglieder der Formation leben in Europa im Exil. „Wir bleiben vielleicht die Einzigen, die diese klassische Art beibehalten“, erklärt Kanunspieler Youssef Nassif aus Marburg. „Wer heute in Aleppo Konzerte besucht, wird diese Art von Musik nicht mehr oft hören.“ Deshalb wolle Jawa diese Musik im Original bewahren.

Die Autorin mit Babel-Music-XP-Direktor Olivier Rey

Foto: Martina Zimmermann

 „Auch die Kinder Eingewanderter leisten in ganz Europa einen Beitrag zur Entwicklung der Traditionen ihrer Eltern und Großeltern“, erklärt Anthropologin Anaïs Vaillant. Folk sei keine Folklore. „Die Künstlerinnen und Künstler stützen sich auf die Tradition, um die Welt von morgen zu schaffen und zu erträumen.“

www.babelmusicxp.com

Aufmacherbild:

ExpéKa

Foto: Anaïs C.

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