Text und Fotos: Alexandre Sladkevich
Am Feiertag Radoniza, dem Gedenken an die Toten, in Kubanskaja nahe dem Friedhof, begegne ich dem Kosaken Nikolaj Gwosdjew (54), Chorleiter und Sänger des Kosakenvolkschores Rodniki, auf Deutsch „die Quellen“. Die Kosakensiedlung Kubanskaja liegt bei Apscheronsk im Kubangebiet im südlichen Russland. Nachmittags dann, bei sich zu Hause, erzählt Gwosdjew: „Irgendwann habe ich realisiert, dass die Kosakenfolklore ausstirbt, weil sie für junge Leute eher uninteressant ist, und entschloss mich dazu, sie zu protegieren. Unsere Folklore besteht aus Sitten, Traditionen und Riten, die sich auf der Bühne gut aufführen lassen. Wir präsentieren sehr verschiedene Bräuche: den Hochzeitsritus, das Geleit des Kosaken zum Wehrdienst, Arbeitsriten wie das Tabakpflücken und orthodoxe Feiertage. Die Kosakenchöre singen auf Russisch, Ukrainisch und Kubanisch.“
Kubanisch, auch als Balatschka bekannt, ist eine Mischung aus ukrainischen Dialekten des achtzehnten Jahrhunderts und dem Russischen. „Unsere Traditionen sind sehr reichhaltig. Verschiedene Kulturen kamen einst zusammen als die Kosaken aus Südrussland und der Ukraine hierherzogen. So entstand eine melodische Sprache, ein Dialekt.“ Die Bräuche unterschieden sich in den verschiedenen Rajons, den Landbezirken, sehr voneinander. In einer Gegend wurde Tabak gepflückt, in einer anderen beispielsweise Rosenblätter, und dabei wurden unterschiedliche Lieder gesungen. Es gab Lieder für Arbeitspausen, Beerdigungen, militärische Lieder, Riten mit Schaschkas, den tscherkessischen Säbeln, und viele mehr. Beim Geleit zur Front bekamen die Kosaken ortsabhängig diverse Glücksbringer, und dementsprechend trugen sie ihre Lieder vor.
Die heutigen folkloreethnischen Kollektive haben sich auf diese Bräuche spezialisiert und dürfen von den authentischen Quellen nicht abweichen.
Der Volkschor Rodniki gilt als sorgsamer Bewahrer der Traditionen. Die Mitglieder sammeln bei den noch wenigen lebenden Alten nicht nur die Bräuche und traditionelles Liedgut, sondern auch die Vortragsweise. Seit mehr als 35 Jahren ist Nikolaj Gwosdjew der Chorleiter. Nikolaj arbeitete als Journalist, was ihm ermöglichte einige Siedlungen zu bereisen, um die alten Lieder und deren Vortragsweise zu erlernen. „Meine Mutter, mein Vater und meine Tanten – alle haben sie gesungen. Ich jedoch dachte, dass sie weinen, so traurig waren manche Lieder. Unser Chor singt so wie schon die Urahnen, sonst wären wir keinen Groschen wert.“ Die Kosakin Tamara Kaschirowa (77), Mitglied des Chores fügt hinzu: „Lieder besitzen eine Erziehungsfunktion. Wenn wir unseren Ahnen nicht gerecht werden können und die Traditionen nicht befolgen, bleiben wir ohne Kind und Kegel, verlieren die Heimat und werden nicht mehr wissen, wer wir sind.“ Nikolaj zitiert Viktor Sachartschenko, den Leiter des Kuban-Kosakenchores: „In unseren Liedern liegt unser Leben und unsere Geschichte, anhand derer man alles über die Kosaken erfahren kann.“
Walentina Matiosowa
Foto: Alexandre Sladkevich
Die Vertreter des im Jahre 1811 gegründeten Staatlichen Akademischen Kuban-Kosakenchores, des ältesten und größten Kosakenchors Russlands, der über 150 Mitglieder zählt, fuhren einige Male von Krasnodar, der Hauptstadt des Kubangebietes, nach Kubanskaja, um von Rodniki zu lernen. Der Kuban-Kosakenchor führt wissenschaftliche Forschungen durch und sammelt die Gesangs- und Tanzfolklore. Den Vorzeigechor kann man oft bei internationalen Wirtschafts- und Politikforen erleben. Oder auch bei Veranstaltungen wie den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi. Er besitzt sogar seine eigene Bibliothek, die ich ebenfalls besuche. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Jelwira Schewtschenko holt stapelweise Bücher heraus, darunter etwa zehn, die sich auch mit der Vielfalt von Hochzeitsliedern beschäftigen und sagt: „Wenn Sie mehr brauchen, hole ich noch weitere.“
Die Kosakenkollektive, sprich Ensembles und Chöre, stellen in gewisser Weise ein historisches Denkmal dar, das die Geschichte der Kosaken festhält, ob sie sich auf Alltag, Kriege, Kultur oder herausragende Persönlichkeiten bezieht. Da die Kosakengebiete von der europäischen Staatsgrenze bis in den Fernen Osten verstreut sind, ist es schwer einzuschätzen, wie viele von ihnen es letztendlich gibt. Es gibt Amateure, semiprofessionelle und Profikollektive. Darüber hinaus gibt es Rentner-, Kinder-, Jugend- und gemischte Kollektive sowie das einzige professionelle Gesangsensemble Ljubo, das die Traditionen der Kosakinnen bewahrt. Es besteht ausschließlich aus jungen Frauen und entstammt der Philharmonie in Sotschi.
Im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert unterwarfen sich die Kosaken nach und nach Moskau und bekamen die Aufgabe, die Staatsgrenzen auszudehnen. Sie waren an der Eroberung des Nordkaukasus, Sibiriens und des Fernen Ostens beteiligt. Alexander Puschkin assoziierte Kamtschatka mit den Kosaken, und Leo Tolstoi sagte: „Die Kosaken haben Russland erschaffen.“ Auch Peter der Große bemerkte: „Die Grenzen des russischen Staates wurden schon immer mit Kosakengräbern erweitert.“
Jelena Suchowa, die Leiterin des Kulturhauses des Rajons Apscheronsk, die ich auf dem Festival Majowka im ethnischen Freilichtmuseum Ataman treffe, berichtet: „Allein in unserem Rajon gibt es zwölf Kollektive. Darunter welche, die Kosakenlieder des neunzehnten Jahrhunderts vortragen, auch Kinder-, Rentnerchöre und ein choreografisches Ensemble, das über zwölf Kosakentänze aufführt. Manche davon besitzen das Ehrenpräfix ‚Volks-‘. Den Titel muss man alle drei Jahre verteidigen.“ Beim Verlust des Titels kann man ihn nicht mehr zurückerlangen. Um sich weiterhin als Volkskollektiv bezeichnen zu dürfen, werden die Kollektive von einer Kommission geprüft. Sie müssen beweisen, dass ihr Repertoire sich stets erweitert und mehr als hundert Lieder umfasst. Die Aussprache muss stimmen und der Nachweis erbracht werden, dass sie die Siedlungen bereisen, Folklore sammeln, darüber publizieren und natürlich Auftritte haben. „Außerdem muss jedes dieser Kollektive ein Trabantkollektiv besitzen, dem es die Traditionen hinterlässt.“
Dann gibt es Kollektive, die Authentisches mit Kreativem kombinieren dürfen, sie werden Bühnefolklorekollektive genannt. Dazu zählt der Kosaken-Kindermusterchor Solowejko aus Apscheronsk, der vor über 25 Jahren gegründet wurde. „Musterchor“ ist ein Ehrentitel, den über 33 Mitglieder von fünf bis achtzehn Jahren verteidigen. Die Sängerin und Chorleiterin Natalja Trunina (33), die Jelena Suchowa in Ataman begleitet, erzählt: „Die Kinder singen und zeigen den Alltag, beispielsweise wie die Kosaken in den Küchen kochten oder im Hof arbeiteten. Dazu kommt eine Portion Fantasie rein. Es wird auf Russisch, Ukrainisch und Balatschka gesungen. Ab zwanzig Mitgliedern darf sich ein Kollektiv als Chor bezeichnen.“ Die Kosakin erwähnt, dass auch die Völker des Kaukasus ihren Beitrag zum Kosakentum beitrugen. Das zeige sich im Besonderen an der kosakischen Männerkleidung.
Außerdem gibt es Chöre, die sich nicht nur auf Kosakentum konzentrieren, sondern auch Pop-, Retro- und russische Volkslieder vortragen, wie der Folklore-Volkschor Russkaja Duscha aus Chadyschensk, ebenfalls aus dem Kubangebiet. Die Chorleiterin und eine der Vokalistinnen Walentina Matiosowa (65) besuchte ich in Chadyschensk und sie lud mich ein, ihren Chor nach Ataman zu begleiten. Ataman liegt auf der Halbinsel Taman, die als Wiege der Kubankosaken gilt.
Walentina erzählt: „Wir sind zwischen 25 und 85 Jahren alt, trotzdem ziehen wir die Jugendlichen an – sie kommen gerne, um uns zu erleben!“ Walentina gründete den Chor vor 24 Jahren. Er bestand ursprünglich aus Kriegsveteranen und sogenannten Arbeitshelden. Inzwischen sind alle Kriegsveteranen verstorben. Man bezeichnet den Chor als „russische Seele mit kaukasischem Herz“, weil Walentina Armenierin ist.
Ende 2011 wurde der Radiosender Kazak FM ins Leben gerufen, der die Kosakenlieder überträgt, über Geschichte und Traditionen erzählt und die Balatschka-Sprache erklärt.
Autoreninfo:
Alexandre Sladkevich wurde in Jekaterinburg geboren. Er arbeitet als freiberuflicher Fotodesigner, Journalist, Dichter und Reisender.
Aufmacher-Foto:
Der Chor Rodniki (Nikolaj Gwosdjew 4. v. l.) in Radoniza beim Gedenken an die Toten
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