Wer Maria Mazzotta auf der Bühne erlebt, spürt sofort: Dieser Sängerin geht es nicht nur um die Melodie, die gesungene Geschichte, um ein Lied. Sie löst mit ihrem Gesang Resonanz im Publikum aus. Ihre Heimat ist der Süden Italiens, ihre Klangwelt sind die menschlichen Gefühle.
Text: Jodok Kobelt
Maria Mazzotta begann ihre Bühnenkarriere als Siebzehnjährige in der bekanntesten Gesangstruppe Apuliens, den Canzoniere Grecanico Salentino (CGS). Seit fast fünfzig Jahren ist diese Folkgruppe Sammlerin, Hüterin und Modernisiererin der Folktraditionen im Salento, insbesondere der Pizzica. Diese Tanz- und Musikform gehört zur Familie der Tarantella, die in ganz Süditalien gesungen und getanzt wird. „Eigentlich haben alle Regionen ihre reichhaltigen Musiktraditionen“, erzählt Maria Mazzotta. „Doch die konnten sich am besten in jenen Regionen erhalten, zu denen der physische Zugang erschwert war. Das gilt für den gesamten Süden Italiens, oder auch für Sizilien.“
Hört man den Ausdruck „Tarantella“, schwingen gleich mehrere Geschichten mit. Man erzählte sich, dass Feldarbeiter, die von der Tarantel – einer giftigen Spinne, die in Süditalien häufig vorkommt – gestochen wurden, unter starken Krämpfen litten. Als Heilmittel wurde ein „Tarantismo“ veranstaltet, bei dem das ganze Dorf zusammenkam, musizierte und mit dem oder der Verwundeten so lange tanzte, bis das Gift herausgeschwitzt war. Wissenschaftlich ist diese Geschichte nicht haltbar, weist aber darauf hin, dass Musik von vielen Gesellschaften als Heilmittel eingesetzt wurde – und immer noch wird. „Es ist klar, dass Musik schon immer für Heilungen benutzt wurde“, sagt Maria Mazzotta. „Man sieht das auch in anderen Bereichen. Wenn bei uns jemand stirbt, dann kommt die Gemeinschaft zusammen, um zu helfen, zu singen und auch um gemeinsam den oder die Verstorbene zu beweinen. Das ist ein ganz wichtiger Teil des Trauerprozesses. Jede Tradition, nicht nur die musikalische, war schon immer ein Gefäß für Gemeinschaftsarbeit.“
Maria Mazzotta
Foto: Giulio Rugge
Viele Formen von Folkmusik, insbesondere die Pizzica, sind im Kern Trancemusik. Auch hier hat Mazzotta eine mögliche Erklärung. „Ich glaube, dass die Wurzeln für traditionelle Musik immer auf einem Ritual beruhen. Man kann auch Feldarbeit als ein Ritual bezeichnen. Bei uns im Süden ist es sehr oft sehr heiß. Früher wurden während der Arbeit ganz spezielle Lieder gesungen. Man sang dabei in sehr hohen Lagen. Viele Feldarbeiten wurden damals in gebückter Haltung ausgeführt. In dieser Haltung und mit dieser Stimmtechnik gelangten die Menschen in einen anderen Bewusstseinszustand, nahmen die Hitze nicht mehr wahr.“
Musik machen, singen, ein Konzert geben ist für Maria Mazzotta immer eine Form von Kommunikation. „Auch hier spielt die Gemeinschaft eine Rolle, denn in der Tradition wird Musik immer zusammen mit dem Publikum gemacht. Die Zuhörerin ist am Lied beteiligt, und viele Lieder werden erst durch die Improvisation lebendig. Ich habe es erlebt, dass wir und das Publikum eine Pizzica fast eine Stunde lange gespielt haben.“
Auch wenn die Zeit mit den Canzoniere Grecanico Salentino zu Mazzottas wichtigsten Lehrjahren zählt, sie beim Festival La Notte della Taranta mit Ludovico Einaudi oder Goran Bregović zusammenarbeiten konnte, sie bei fast allen großen Musikfestivals rund um den Globus auf der Bühne stand, wurde das musikalische Umfeld ihr doch zu eng. „Es kam der Moment, dass ich die Band verlassen musste, denn ich wollte nicht nur Lieder aus dem Salento interpretieren. Ich wollte meine Stimme auch in anderen Kulturkreisen ausprobieren. Also startete ich das Duoprojekt mit dem albanischen Cellisten Redi Hasa. Wir versuchten, Gemeinsamkeiten zwischen dem Süden Italiens und der Balkanregion zu entdecken. Man muss sich das geografisch vorstellen: Apulien liegt näher an den Balkanländern, zum Beispiel an Albanien, als an Rom. Also lag es auf der Hand, eine musikalische Brücke über die Adria zu bauen.“ Es kamen Workshops, Theater- und Filmprojekte dazu. Mazzotta verlegte ihren Wohnsitz auch für ein paar Jahre nach Frankreich, wollte ihr Land, ihre Kultur einmal von außen betrachten. Überraschend für sie kam, dass gerade diese Außensicht sie wieder nach Italien zurückkehren ließ. Ihre neuen Freunde schwärmten immer wieder von der reichen Kultur Italiens, und Maria Mazzotta stellte bei sich selbst fest, dass sie diese Einschätzung nicht mehr vorbehaltlos übernehmen konnte. „Ich glaube, unsere Kultur hat sich verändert. Wir haben uns sehr stark den USA zugewandt. Das hat dazu geführt, dass wir unsere eigene Kultur nicht mehr so wertschätzen. Das war auch der Grund dafür, warum ich 2020 mein erstes Soloalbum gemacht habe.“
Maria Mazzotta
Foto: Giulio Rugge
Amoreamaro wird getragen von Maria Mazzottas Stimme und dem Akkordeon von Bruno Galeone. Das Album beinhaltet Eigenkompositionen und vier große Verneigungen vor Komponisten und Sängerinnen, welche für sie als junge Sängerin wichtig gewesen waren. Wie die sizilianische Ikone Rosa Balistreri, die eigenwillige Popdiva Gabriela Ferri oder der Cantautore Domenico Modugno. Es sind Lieder von Leid, Hunger, Unterdrückung und Ungerechtigkeit (Balistreri), von zerbrochenen Träumen und wie man/frau darüber hinwegkommt (Ferri). Dazu die Geschichte der Schwertfischerei (Modugno): Die Fischer in der Meerenge von Messina töteten immer zuerst die weiblichen Fische, denn sie wussten, dass die Männchen ihre Partnerinnen nie verlassen und ihnen freiwillig in den Tod folgen. Darin liegt die Kunst Maria Mazzottas. Egal ob sie in einem der salentinischen Dialekte singt, ein Lamento aus den Abruzzen, ein Liebeslied aus Sardinien oder ein Wiegenlied, dessen Geschichte weit in der Zeit zurückreicht, für die Sängerin sind dies alles Kanäle, um das zu transportieren, was jeder Mensch ohne Worte versteht: Gefühle. „Wenn jemand lacht oder weint, ist dies ohne Übersetzung für alle verständlich. Wenn jemand angespannt oder glücklich ist, spürst du das. Das geht alles weit über die Sprache und die jeweilige Kultur hinaus. Je mehr du lebst und erlebst, um so reichhaltiger werden deine eigenen Erfahrungen mit unterschiedlichsten Gefühlen, leichten wie bedrückenden. Es geht mir nie um den schönen Gesang, um Belcanto, sondern darum, wie die Stimme Gefühle transportieren kann.“
Weil die Maria Mazzotta diese Interpretationsfähigkeit auf der Bühne voll einsetzt, kann es immer wieder sein, dass sie mitten in einem tragischen Liebeslied zu weinen beginnt. „Ja, das passiert mir sehr oft, weil mich die Gefühle einfach überrollen. Dann darfst du ihnen nichts in den Weg stellen und musst trotzdem weitersingen. Wenn dann das Lied vorbei ist, fühle ich mich erleichtert. Schmerzliche Zustände kennt ja jeder von uns, das gehört zum Leben. Man kann sie loslassen und wieder zu glücklicheren Gefühlen zurückkehren. Wie ich das selbst mache, kann ich nicht erklären, aber es ist etwas, das ich machen muss, sonst macht die Musik für mich keinen Sinn.“ www.mariamazzotta.com
Aufmacherfoto:
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