Orkestar Kriminal!

Jiddische Gangstersounds aus Montreal

16. August 2024

Lesezeit: 3 Minute(n)

Hoch lebe der Gangstersound der 1920er- und 1930er-Jahre! „Ganovim-loshn“ („Die Sprache der Diebe“) war in der Zwischenkriegszeit des vergangenen Jahrhunderts das Jiddisch, das in der Unterwelt in Warschau, Odessa und Istanbul unter Ganoven gesprochen wurde. Das vielköpfige Orkestar Kriminal aus Montréal hat die Songs aus dieser Epoche jetzt wieder zu neuem Leben erweckt und mit einer rotzfrechen Punkattitüde aufgepeppt. Damit brachten acht Bandmitglieder kürzlich bei ihrer allerersten Europatour doch tatsächlich das Jüdische Gemeindehaus in Berlin zum Kochen! Und das mit ungewöhnlichen Instrumenten wie der griechischen Baglamas oder einer Singenden Säge.

Text: Eva-Maria Vochazer

Bandchefin Giselle Claudia Webber und ihre wuseligen musikalischen Mitstreiter wollen daran erinnern, dass viele osteuropäische Juden in den 1920er- und 1930er-Jahren so arm waren, dass sie stehlen mussten, um zu überleben. Und dabei mitunter im auch Gefängnis landeten. Ihre Knasterfahrungen verarbeiteten sie auch in der Musik, sodass eine ganze Tradition „krimineller“ Folksongs entstand, die mit dem Holocaust völlig in Vergessenheit gerieten.

Die Songs auf dem neuen Orkestar-Album Originali sind keine gewöhnlichen Folksongs: Hier geht es ordentlich zur Sache! Gewalt spielt eine wichtige Rolle. „Und man kann hier mit uns ganz wunderbar die Extreme des jüdischen Klugscheißertums entdecken“, schreibt die Band. Originali besteht, wie der Titel schon sagt, ausschließlich aus Originalen. Produziert wurde das Album übrigens vom Grammy-prämierten Mark Lawson. Im März war das Kriminal Orkestar damit erstmals auf Tournee in Europa. Neben dem umjubelten Auftritt in Berlin stand der Gig beim Festival Jewish Music Today in Fürth im Mittelpunkt.

Als die Band begann, die Songkonzepte für Originali zu entwickeln, waren die Musikschaffenden davon fasziniert, dass die „Unterwelt“ in den Songs zur „Oberwelt“ wird. Die Kriminellen waren oft diejenigen in Machtpositionen. Die Verbrechen wurden an denen verübt, die gesellschaftlich schwächer waren. Im Song „Shaapit Heera“ sind die Diebe des Koh-i-Noor-Diamanten gierige Reiche, die bald an seinem mysteriösen Fluch zerbrechen. „Falsh“, gesungen auf Polnisch und Jiddisch, wird musikalisch im griechischen Rembetiko-Stil präsentiert und erzählt die wahre Geschichte eines jüdisch-amerikanischen kriminellen Rabbiners, der gefälschte Thorarollen aus der Zeit des Holocausts zu überhöhten Preisen auf dem freien Markt verkaufte. „Wardatun Li Ajlin Qalbin Mansiyin“ ist zwar auf Arabisch geschrieben, klingt aber wie ein alter Pariser Bistrowalzer aus den 1930er-Jahren und erzählt die Geschichte von Zeus und Io aus der altgriechischen Mythologie und macht die Verbindung zur #Metoo-Bewegung deutlich.  

Foto: Promo

Eine der Spezialitäten der Band ist es, Schätze aus den jiddischen Archiven zu heben, die das Thema „jüdische Gangster“ in den Mittelpunkt stellen. Die Arrangements überraschen mit Einflüssen aus dem psychedelischen Surf oder dem experimentellen Rock. Mit der Aufnahme jiddischer Originalkompositionen wie „Keynemsland“ oder „Az Es Vert Mir Shver“ will das Ensemble der Gemeinschaft etwas zurückgeben.

Das Orkestar Kriminal besteht seit rund einem Dutzend Jahren und gedeiht in Montreals vielfältiger Kulturszene bestens. Für viele Bandmitglieder, die aus assimilierten eingewanderten Familien stammen, war es hier das erste Mal, dass sie Musik in der Muttersprache ihrer Vorfahren neu arrangierten. Die Band wird in ihrer Heimat übrigens für den charakteristischen „Orkestar-Groove“ gefeiert. Das ist „Cabaret Noir“ vom Feinsten!

Im Mittelpunkt steht die kraftvolle Stimme von Frontfrau Giselle Claudia Webber. Wenn die Melodie eingängig ist und auch ein wenig düster, dann dreht das Orkestar Kriminal erst so richtig auf. Die bittersüßen Melodien sind generell unwiderstehlich. Live ist das Orkestar Kriminal ohnehin eine Macht, der man sich besser nicht in den Weg stellt.

Orkestar Kriminal im cpl-musicshop

Foto: Promo

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