In den Neunzigerjahren begann Widad Mjama mit Rap, gründete die Gruppe Thug Gang und wurde – in einer männlich dominierten Szene – zur ersten weiblichen Rapperin Marokkos. Mit dem Projekt N3rdistan trat sie 2018 beim Bardentreffen in Nürnberg auf. Sieben Jahre später steht sie mit Khalil Epi als Duo Aïta mon amour erneut dort auf der Bühne. Ihre Wurzeln reichen zurück bis zu den Amazigh-Frauen, die historisch eine starke Stellung in der Gesellschaft und militärische Rollen innehatten. Mjama ist halb Amazigh, halb arabisch, studierte Theater in Casablanca und schloss einen Master in Ökonomie an der Universität von Montpellier ab, eine Bürokarriere sprach sie jedoch nicht an. Beide Musikschaffenden leben heute im französischen Montpellier. In Nürnberg stellte sich Widad Mjama den Fragen des folker.
Interview und Fotos: Kat Pfeiffer
Euer erstes Album mit Aïta mon amour erschien Anfang 2025. Warum habt ihr es Abda genannt?
Abda heißt die Region, aus der die Aïta-Musik stammen soll. Die meisten Geschichten, die diese Stilrichtung erzählt, spielen dort. Aïta bezeichnet im marokkanischen Dialekt ein Ruf- oder Klagelied. Es ist eine sehr alte Tradition. Was ich darüber gelesen habe, besagt, dass Aïta im zwölften Jahrhundert mit der Ankunft arabischer Stämme, die in das Gebiet des heutigen Marokko einwanderten, ihren Anfang nahm und maßgeblich von den Amazigh, den indigenen Völkern Nordafrikas, beeinflusst wurde. Die Dichtungen, die wir heute in Marokko singen, stammen aus dem Zeitraum vom Ende des siebzehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert. Khalil spielt neben den elektronischen Instrumenten auch Oud, ein traditionelles marokkanisches Instrument arabischen Ursprungs, das aber auch von den Amazigh häufig gespielt wurde. Wir arbeiten an Aïta aus Abda.
„Wir verstehen, wie wichtig es ist, mit modernen Tools zu arbeiten, wenn man Tradition bewahren will.“
Ist Aïta eine Frauendomäne?
Sie ist eine musikalische Zelebrierung, in der Frauen die Hauptrolle spielen – als Dichterinnen und Sängerinnen haben sie diese Tradition bewahrt. Aïta könnte anfangs eine Männerdomäne gewesen sein, die von Frauen übernommen wurde, da sie ein perfektes Medium für den Ausdruck von Emotionen war. Es gibt Videos, auf denen mehrere sitzende Männer und in der Mitte eine singende Frau zu sehen sind. Im Moment geht die Anzahl der Sängerinnen aber zurück, sodass die Männer wieder übernehmen.
Cheikhs* also …
Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurden die singenden Frauen „Cheikhates“ genannt, die Aïta für festliche Angelegenheiten adaptierten. Die Bezeichung „Cheikha“ ist von dem männlichen Singular „Cheikh“ abgeleitet und steht in femininer Form für eine erfahrene Sängerin oder Frau mit gesellschaftlicher Autorität. Wenn eine Frau allerdings in einer konservativen Gesellschaft lebt und Sängerin ist, kann sie für dieselbe Sache geliebt oder gehasst werden. In diesem Sinne kann „Cheikha“ auch ein beleidigender Ausdruck sein, besonders wenn der Begriff genutzt wird, um eine Frau als freizügige Sängerin oder Person mit zweifelhaftem Ruf herabzuwürdigen. Auf jeden Fall aber repräsentiert „Cheikha“ weibliche Stärke im Sinne einer freien Frau – eine Haltung, die in der alten Amazigh-Kultur zu Hause ist.
Was ist die moderne Inspiration der Aïta für dich?
Ich bewundere die Cheikhates als Symbol für einen friedlichen Feminismus – eine Idee, man selbst zu sein. Das Projekt Aïta mon amour ist ein persönlicher Reifeprozess für mich, der mir als Frau Selbstvertrauen gibt. Noch bin ich keine Cheikha, vielleicht erst der erste Buchstabe auf diesem Weg. Ich möchte das gesamte Repertoire kennen und singen können, ein Wunsch, den ich schon in der Hochschule hatte. Schon beim Rap waren mir Tradition und Frauenrechte wichtig. Diese Gesänge begleiteten meine Kindheit bei festlichen Anlässen und faszinierten mich bereits da.
Wie hast du die alten Stücke entdeckt und sie gelernt? Hast du Cheikhates getroffen?
Als ich mit dem Projekt begann, traf ich vor allem Männer, keine Frauen! Die Aïta-Tradition ist in Marokko bekannt, und viele kennen die Lieder von Festen. Um die authentischsten Versionen zu finden, reisten Khalil und ich nach Safi, um mit alten und jungen Cheikhs zu singen. Der ländliche arabisch-marokkanische Dialekt unterscheidet sich vom städtischen, und Aïta wird je nach Region mit verschiedenen Akzenten, Rhythmen oder Melodien gesungen. Ein Nachteil von Traditionen ist es, dass ihr Wissen mit den Menschen verloren geht, wenn diese sterben, weshalb wir nach einigen Bedeutungen noch suchen. Ein Aïta-Lied kann sich über Jahre hinweg ausstrecken und eine Erzählung entwickeln, in der eine Figur, die am Anfang vorkommt, am Ende nicht mehr existiert. Es geht um Themen wie Ortschaften, Ereignisse, Krieg, Liebe oder Verlust.
Haben die originalen Sänger deine Aïta-Versionen gehört? Wie haben sie reagiert?
Sie haben ihnen gefallen! Sie leiden unter Marginalisierung – viele Leute kommen, nehmen ihre Lieder und machen damit, was sie wollen. Das fühlt sich wie ein Hintergehen an. Deshalb habe ich beim ersten Mal erklärt, was ich vorhabe. Einer sagte: „Wenn Aïta bleibt, wie meine Mutter und Tanten sie gekannt haben, wird sie sterben. Mach das!“ Im Juli dieses Jahres haben wir ein Konzert in Casablanca gegeben und diese Musiker sowie einen Chor mit jungen Sängerinnen auf die Bühne eingeladen. Das war ein wunderschöner Mix aus Tradition und Moderne! In unseren Konzerten nutzen wir als Backingtracks auch die originalen Aufnahmen aus Marokko: Gesänge, aber auch Geigenspiel.
Betreibt ihr mit Aïta mon amour kulturellen Aktivismus?
Wir möchten unsere Kultur und Wurzeln teilen. Obwohl in diesem Fall marokkanisch, sind die Inhalte doch unser gemeinsames Erbe – Themen wie Liebe und Freiheit verbinden uns alle, unabhängig von unserer Herkunft. Wenn man das Aktivismus nennen will, dann ist dieser jedoch humanistisch, nicht nationalistisch gemeint. Zudem wollen wir der außerhalb Marokkos noch wenig bekannten Aïta-Musik mehr Aufmerksamkeit verschaffen.
Du trägst kurze Haare, eine Jeans und ein knappes Top. Ist das ein Thema für die marokkanischen Medien?
Überhaupt nicht! Meine Mutter war Amazigh und beim Militär – eine sehr starke Frau. Marokkos Kultur ist vielfältig, und es gibt viele starke Frauen in verschiedenen Bereichen. Was Leute über mein Aussehen auf der Bühne sagen, interessiert mich nicht. Ich mache Kunst.
In den Neunzigern war die marokkanische Undergroundszene männerdominiert …
Als Jugendliche suchte ich nach etwas Rebellischem. Rock ’n’ Roll hat mir überhaupt nicht gefallen. Mein Bruder hörte Rap, der mir wegen seiner Botschaften gegen Ungerechtigkeit gefiel. Obwohl ich in Frieden lebte, sehnte ich mich nach Freiheit und wollte Grenzen austesten. So begann ich zu rappen. Mein Vater war Arabischlehrer, und wir lasen viel Poesie zu Hause, so bekam ich auch ein Gefühl für Worte.
Deine poetische Electro-Hip-Hop-Band N3rdistan war international erfolgreich und dann auch die Brücke zu Aïta mon amour …
Im achten Monat schwanger suchte ich eine Vertretung für mich in der Band. Khalil war damals neu in Montpellier und wurde mir von einem gemeinsamen tunesischen Freund als talentierter Typ angekündigt, den ich kennenlernen sollte. Wir trafen uns 2017 in einem libanesischen Restaurant, und sofort war klar, dass wir zusammenarbeiten würden. Khalil kommt aus der tunesischen Undergroundszene, er hat die gleiche Sensibilität für traditionelle Musik wie ich. Beide verstehen wir, wie wichtig es ist, mit modernen Tools zu arbeiten, wenn man Tradition bewahren will. Die Geige in Aïta einzuführen, war ebenfalls eine Weiterentwicklung. Mit Aïta mon amour starteten wir während der Pandemie. Im Februar 2023 reisten wir zu den Musikern nach Marokko, und im Oktober spielten wir unser erstes Konzert.
Gibt es Pläne für neue Projekte?
Ich könnte im Moment kein anderes künstlerisches Projekt haben, weil ich ganz in dem aufgehe, was ich gerade mache. Auch wegen meines Sohnes. Khalil allerdings hat noch ein eigenes, ziemlich interessantes Projekt mit dem nach seiner Oma benannten Titel „Aïchoucha“, mit dem er kleine kinematografische Konzerte aufführt. Unsere Reise mit der Aïta-Musik wird ebenfalls gefilmt, einschließlich der Arbeit mit Musikschaffenden und Auftritten. Wir sind voll beschäftigt!
* Leitet sich vom arabischen Wort cheikh ab, das „alt“, „weise“ oder „erfahren“ bedeutet.
Linktipps:
Aïta Mon Amour, „Hajti Fi Grini“: www.youtube.com/watch?v=ojw0pqvo1J4
Khalil Epi/Aïchoucha, „Ons“: www.youtube.com/watch?v=zoOlVYp5ijc









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