„Der beste Weihrauch kommt von alten Bäumen.“ Dieses alte Sprichwort trifft auf kaum jemanden besser zu als auf Chris Wenner. Der Bonner Musiker ist der beste Beweis dafür, wie sehr man erst im Alter wirklich künstlerisch aufblühen kann. Gerade hat er seine ungewöhnliche Lebensgeschichte um sein wohl reifstes Album erweitert.
Text: Erik Prochnow; Fotos: Frank Elschner
Wo würde er heute stehen, wenn er von Anfang an seiner wahren Leidenschaft gefolgt wäre? Die Geschichte von Chris Wenner ist sicherlich eine der ungewöhnlichsten in der Singer/Songwriter-Szene. Fast vier Jahrzehnte lang war er erfolgreicher Anwalt für Wirtschaftsfragen, bevor er sich als Rentner seit 2019 endlich dem widmet, was er schon immer hatte tun wollen: der Musik und dem Komponieren eigener Songs. „Musik war eigentlich das Einzige, was mir wirklich etwas bedeutete“, sagt Wenner rückblickend.
Doch erst im fortgeschrittenen Alter startet er nun wirklich durch. Nicht nur hat der 69-Jährige im Januar sein drittes Album veröffentlicht. Durch sein großes Talent hat er in fünf Jahren das erreicht, wonach viele Musikschaffende eine ganze Karriere lang streben: Millionen Streams, Aufnahme in diverse Radioplaylisten, einen ersten Preis in einem internationalen Liederwettbewerb. Wenner beweist, dass erstklassige Musik keine Altersgrenzen kennt und man sein Potenzial auch erst spät entfalten kann. Den Aufbruch in sein neues Leben spiegeln auch die drei Albumtitel wider: A New Born Man, Maywind und Not Old Enough.
Dabei sah es in seiner Jugend durchaus danach aus, dass Musik eine zentrale Rolle in seinem Berufsleben hätte spielen können. In Gießen geboren, wuchs Wenner zunächst in Bonn auf. Als sein Vater, ein Kinderarzt, eine Professur an der Universität in Hannover erhielt, zog die Familie in den Norden. Mit fünfzehn lieh er sich die Gitarre des Nachbarn und war infiziert. Zwar bekam er ein paar Stunden Unterricht bei seinem damaligen Mitschüler, dem späteren Scorpions-Gitarristen, Uli Jon Roth. „Doch eigentlich habe ich mir das Gitarrespielen selbst beigebracht. So habe ich etwa ‚House Of The Rising Sun‘ so lange geübt, bis ich alle Akkorde flüssig konnte“, beschreibt Wenner seine Anfänge. Inspiriert durch Woodstock und Jethro Tull, begann er schließlich eigene Lieder zu schreiben. Da lebte er bereits im Internat des Ostsee-Gymnasiums Timmendorfer Strand.
Einen Schub bekamen seine musikalischen Ambitionen, als er mit siebzehn einen Austauschschüler amerikanisch-mexikanischer Abstammung kennenlernte, der seine Leidenschaft für Folk teilte. Gemeinsam gründeten sie eine Band, schrieben Songs und gaben Konzerte. „Erste Auftritte haben wir im Raum Hannover organisiert“, so Wenner. Sein musikalisches Schlüsselerlebnis war dann der Besuch des letzten Konzertes von Crosby, Stills, Nash & Young unterstützt von Joni Mitchell und The Band im Londoner Wembleystadion am 14. September 1974. Doch statt denselben Pfad wie seine Vorbilder einzuschlagen, sah sich Wenner plötzlich vor die entscheidenden Fragen des Lebens gestellt. Er hatte sein Abitur in der Tasche und sein Bandpartner musste zurück nach Amerika. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und die Idee, hauptberuflich Musiker zu werden, kam mir nicht in den Sinn“, erinnert er sich. Sein Vater nahm ihn deshalb mit zum Arbeitsamt, wo er erfuhr, dass ein Jurastudium ihm alle Möglichkeiten offenlassen würde.
Also begann er sein Studium zunächst in Marburg und fand sich 1978 erneut in Bonn an der renommierten Friedrich-Wilhelms-Universität wieder. Dort schloss er 1982 nicht nur mit einem der besten Examina ab. Wenner promovierte anschließend auch an der Hochschule und wusste wieder nicht, was er tun sollte. „Eigentlich wollte ich Richter werden, aber dann kam ein Angebot von einer Kanzlei, in der ich in meinem bevorzugten Fachgebiet arbeiten konnte, dem Internationalen Privatrecht“, erläutert er seinen Einstieg als Wirtschaftsanwalt. 1995 gründete er dann mit Kollegen die Kölner Wirtschaftskanzlei GÖRG Rechtsanwälte, die heute zu einem der größten Anwaltsbüros in Deutschland zählt.
„Neues kann nur entstehen, wenn man an nichts festhält.“
Musik war für Wenner zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Hobby. Dennoch schrieb er weiterhin regelmäßig eigene Songs. „Das Komponieren war für mich immer wie ein Tagebuch, in dem ich die Erlebnisse des Alltags verarbeitet habe“, erzählt der Musiker. Er begann sogar damit, seine Lieder aufzunehmen. Gespielt hat er allerdings nur für sich, seine damalige schwedische Ehefrau und ihre drei Kinder. Auftritte fanden höchstens mal im Kindergarten statt.
So zogen die Jahre ins Land und Wenners Berg an Kompositionen wuchs. Erst in seinen letzten Berufsjahren, als sich abzeichnete, dass er aufgrund gesundheitlicher Probleme die Kanzleiarbeit würde niederlegen müssen, fokussierte er sich wieder mehr auf die Musik. „Der Plattenvertrag beim Label des Herbert-Grönemeyer-Schlagzeugers Detlef Kessler gab mir neue Motivation“, sagt Wenner. Er begann, mit dem Kölner Produzenten Matthias Krauß seine Songs aufzunehmen. 2020, im zweiten Jahr seiner Pensionierung, erschien sein Debüt, A New Born Man. Nur zwei Jahre später legte er das Album Maywind nach.
Aber Wenner wollte mehr. Auch wenn seine Gesundheit es ihm derzeit nicht erlaubt, Konzerte zu spielen, möchte er sich musikalisch weiterentwickeln und mit neuen Klängen experimentieren. Zu diesem Zweck hat er in seinem Bonner Haus ein eigenes Aufnahmestudio eingerichtet. Auf der Suche nach einem geeigneten Vorverstärker tauschte er sich intensiv mit einem Anbieter auf eBay aus. Dieser klingelte eines Tages an seiner Haustür – es war kein geringerer als der Berliner Produzent Philipp Hoppen, der Bands wie Die Ärzte, Kraftklub oder Feine Sahne Fischfilet produziert hat. Spontan vereinbarten sie, das dritte Wenner-Album aufzunehmen. „Die Songs entstanden zum Teil während der Coronapandemie, und Hoppen hat oft bei mir übernachtet, damit wir an den Songs feilen konnten“, beschreibt Wenner den Aufnahmeprozess.
Entstanden ist sein wohl intensivstes Werk. Fein arrangierte Melodien, mal mit Fingerpicking, mal mit Klavierbegleitung, mal rhythmischer Pop, mal soulig, immer getragen von Wenners ausdrucksstarker und einfühlsamer Stimme sowie mehrstimmigem Gesang, der an Crosby, Stills & Nash erinnert. Zum Teil unterstützt ihn dabei auch eine seiner Töchter, die unter dem Künstlernamen Greta Lovisa in London selbst Musik macht.
Doch beim ersten Hören kommt einem unweigerlich das bei Kritikern geschätzte Paul-McCartney-Album Chaos And Creation In The Backyard in den Sinn. Und tatsächlich: „Ich liebe das Album“, sagt Wenner. Die Beatles und vor allem die Soloalben McCartneys hätten ihn stark beeinflusst. Doch Chris Wenner ist weit davon entfernt, nur eine gute Kopie zu sein. Über die Jahre hat er seinen ganz eigenen Stil entwickelt, der unmittelbar berührt. „Ich höre daher auch nicht mehr viel, um meine eigenen Ideen nicht zu überspielen“, erläutert er seinen kreativen Prozess. Auch wenn seine Texte, die er immer in Englisch verfasst, eher eine melancholische Stimmung verströmen, etwa über das Zerbrechen von Beziehungen, spricht doch aus allen Songs der Aufbruch, ganz im Sinne des Albumtitels Not Old Enough. Voraussetzung, um noch längst nicht zu alt zu sein, sei dabei aber eins: „Neues kann nur entstehen, wenn man an nichts festhält.“ Und wenn Wenner das im Alter weiterhin so vorzüglich gelingt, wird von dem fast 70-Jährigen noch einiges zu hören sein.
Aktuelles Album:
Not Old Enough (Mara Records, 2025)
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