Kaddour Hadadi

Tanzen für die Freiheit

25. Juli 2022

Lesezeit: 6 Minute(n)

Während die Deutschen zwar murrten, aber den Kulturstillstand während der Coronapandemie hinnahmen, gingen die Franzosen und Französinnen auf die Straße. Sie singen und tanzen seitdem einfach selbst. Für Freiheit, Recht auf künstlerisches Wirken und gegen den Frust. Ihre Hymne ist ein Lied des populären nordfranzösischen Sängers Kaddour Hadadi. „Danser Encore“ ist ansteckend und findet inzwischen sogar weltweit begeisterten Zuspruch.
Text: Erik Prochnow

„Ohne Frage ist es wichtig, den Körper zu schützen, aber wir müssen uns auch um die Herzen und den Geist kümmern.“

Nichts kann sie erschüttern. Weder der Aufzug des französischen Militärs, das ihre intensive Hilfe für Geflüchtete unterbinden sollte, noch der Sturm Alex, der ihr Tal Ende 2020 für fast ein halbes Jahr von der Außenwelt abschnitt, noch der strenge Lockdown der Regierung Emmanuel Macrons zur Eindämmung der Coronapandemie. Egal, was die Bewohner und Bewohnerinnen des im Osten Frankreichs an der Grenze zu Italien liegenden Royatals in den vergangen fünf Jahren erlebten, sie singen und tanzen immer weiter auf den Marktplätzen der Bergdörfer. „In dieser Zeit, die für viele so deprimierend ist, wollen wir ein Zeichen setzen gegen die Angst und für die gemeinsame Freude, die wir in der Kultur erfahren“, sagt Revo, eine der Organisatorinnen der offiziell nicht genehmigten Aktionen, die aus Angst vor Repressalien lieber anonym bleiben möchte.
Was Revo und ihre Mitstreiter regelmäßig öffentlich singen, ist nicht irgendein Lied. Es ist das Chanson „Danser Encore“ („Wir tanzen noch“) des beliebten französischen Musikers Kaddour Hadadi oder einfach nur HK. Seit einem Jahr bringt das Lied nicht nur die Massen auf die Straßen. Es entwickelte sich quasi zur Hymne gegen die Coronamaßnahmen. „Ich habe es an einem Abend im November 2020 aus Ärger über den zweiten Coronalockdown und das sofortige Auftrittsverbot geschrieben“, beschreibt Hadadi die Geburt des Songs. „Die Aussage der Regierung, dass wir Künstler nicht systemrelevant für die Gesellschaft seien, empfinde ich bis heute als tief beleidigend.“ Nach der Erklärung Macrons ging er von seiner Probe in einem Theater in Avignon nach Hause und schrieb sich seinen Frust von der Seele. „Es war ein Schrei meines Herzens, um etwas Positives zu kreieren“, fasst der 45-jährige Sänger seine damalige Stimmung zusammen. Für ihn war es völlig unverständlich, dass Theater, Clubs, Kinos, Bibliotheken oder Museen schließen mussten und Musikerinnen und Musiker nicht mehr öffentlich auftreten durften, während sich die Menschen in U-Bahnen oder Supermärkten dicht an dicht drängelten und mit dem Coronavirus infizieren konnten. Dabei geht es dem französischen Künstler deutlich besser als etwa seinen deutschen Nachbarn. Hadadi ist einer von mehr als zweihundertttausend sogenannten „intermittent du spectacle“, den besonderen Kulturschaffenden, die nicht nur während der Pandemie, sondern grundsätzlich vom Staat Geld erhalten, wenn sie nicht arbeiten. „Ich wollte meiner Kritik gegenüber dem autoritären Verhalten der Regierung Ausdruck verleihen, allerdings mit Eleganz und einem Lächeln auf den Lippen.“
Und das ist dem Sohn algerischer Einwanderer vortrefflich gelungen. Es ist schwer, sich dem Zauber und Rhythmus von „Danser Encore“ sowie seiner Botschaft des zivilen Ungehorsams zu entziehen. Hadadi selbst war von der großen Resonanz auf seinen Protestsong allerdings völlig überrascht. Als er das Lied zwei Tage, nachdem er es geschrieben hatte, mit Freunden auf der Straße einspielte und den Videoclip des Auftritts im Internet veröffentlichte, überrollte ihn eine Welle. „In nur 48 Stunden hatten wir bereits eine Million Klicks. Nach drei oder vier Tagen schickten die Menschen Videos mit ihren eigenen Versionen“, ist der Künstler immer noch überwältigt. Spätestens da war ihm klar, dass das Lied ihm nicht länger gehörte. Hadadi verzichtet seitdem nicht nur auf die Rechte an seinem Song. Er bietet seine inzwischen im Studio aufgenommene Version auch als kostenlosen Download an. „Sicher leben wir Musiker davon, CDs zu verkaufen, aber es ist auch wichtig, Dinge zu machen, die nicht den Gesetzen des Marktes folgen“, unterstreicht der Musiker sein Handeln.

Der überwältigende Siegeszug von „Danser Encore“ gibt ihm recht. Rund 5,5 Millionen Klicks auf Youtube. Überall in Frankreich versammeln sich bis heute wie im Royatal die Menschen, um das Lied gemeinsam in der Öffentlichkeit zu zelebrieren. Die beeindruckendsten Zusammenkünfte waren dabei die Flashmobs in den Pariser Bahnhöfen Gare du Nord und Gare de l’Est sowie im Zentrum von Lille, bei denen sich mehrere Tausend Begeisterte, darunter viele Musikerinnen und Musiker aller Genres, einfanden. Bei den spontanen Treffen tritt auch Hadadi selbst oft auf. Im März dieses Jahres sprang der Funke dann auch auf andere europäische Länder über. Ob in Belgien, den Niederlanden, Deutschland, Österreich, Irland, England, Spanien oder sogar am Times Square in New York, überall machen die Menschen mit eigenen Versionen und Texten ihrem Ärger über die Coronamaßnahmen Luft. In Italien wurde mit dem Song sogar dem Ende des Faschismus gedacht und in Portugal der Jahrestag der Nelkenrevolution gefeiert.

Die Kritik der Behörden an den spontanen musikalischen Protesttreffen kann Hadadi nicht nachvollziehen. „Wir sind keine Gefahr für Ansteckungsherde, wie viele behaupten“, betont er und fährt fort: „Wir sind dreißig Minuten an der frischen Luft, halten Abstand und sind einfach froh, uns endlich wieder zu treffen und gemeinsam zu musizieren.“ Seine Aussage wird längst von wissenschaftlichen Studien belegt. Untersuchungen während der Pandemie haben gezeigt, dass öffentliche Veranstaltungen im Freien keine Infektionscluster darstellen und auch keine erhöhte Ansteckungsgefahr bedeuten. „Ohne Frage ist es wichtig, den Körper zu schützen, aber wir müssen uns auch um die Herzen und den Geist kümmern“, mahnt Hadadi. „Kunst und Kultur sind dafür das Beste, was wir haben, und das möchte ich uns sozialen Wesen ins Bewusstsein rufen.“ Schließlich ist für ihn klar, dass Corona die Gesellschaften noch lange begleiten wird. „Wir werden mit dem Virus leben und neue Wege finden müssen, um zu arbeiten und uns sicher zu treffen.“ Aus seiner Sicht zeigt die Pandemie, dass es Zeit ist, Gesundheit völlig neu zu definieren und auch den Bereich der psychischen Gesundheit endlich ernst zu nehmen. Und er weiß aus eigener Erfahrung, wovon er spricht.

„Musik ist der beste Weg, um die Menschen wieder zusammenzubringen.“

Kaddour Hadadi wurde am 6. September 1976 in der nordfranzösischen Stadt Roubaix geboren. Er wuchs in einem sozialen Brennpunkt auf, in dem Gewalt Alltag war. „Ich spreche hier nicht nur von physischer Gewalt, sondern auch von einem System, dass die Menschen ausgrenzt und ihnen keine Perspektiven eröffnet, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und ihren Platz in der Gesellschaft zu finden“, erläutert der Musiker. Während dieser Zeit festigte sich in ihm die Einsicht, dass nur Gewaltlosigkeit der Weg sein kann, um eine andere Gesellschaft zu erschaffen. „Wenn wir auf Gewalt mit Gewalt antworten, haben wir uns selbst und den Kampf für eine gerechte Welt verloren“, sagt Hadadi, der sich selbst als Weltbürger sieht. Deshalb fordert er die Teilnehmenden der „Danser-Encore“-Flashmobs auch immer wieder dazu auf, die Hygienebestimmungen einzuhalten und nicht gewaltsam zu demonstrieren. Den Coronamaßnahmen steht er dennoch sehr kritisch gegenüber. Als Macron, im Juni entschied, dass der Gesundheitspass und damit eine Impfung oder ein Test für den Besuch von Veranstaltungen verpflichtend ist, sagte Hadadi vorerst alle Konzerte ab. „Ich spiele nur noch auf Open-Air-Veranstaltungen, weil dort für die Besucher kein Pass erforderlich ist“, erklärt er.

Diese Einstellung des zivilen Ungehorsams prägt seine gesamte musikalische Karriere, die bereits im Alter von fünfzehn Jahren begann. Damals gründete Hadadi, der heute im südfranzösischen Bergerac lebt, seine erste Rapformation, Juste Cause („gerechte Sache“). Den kommerziellen Durchbruch erlebte er im Jahre mit 2005 mit seiner Formation Ministère des Affaires Populaires („Ministerium für Volksangelegenheiten“). Hier vereinte er Hip-Hop mit folkloristischen Einflüssen mittels Instrumenten wie Akkordeon und Violine. Schon damals zeigte sich Hadadis Talent für das Schreiben von Kompositionen für die Massen. Seine Antwort auf Präsident Nicolas Sarkozys unsoziale Politik „On Lâche Rien“ („Wir haben nichts zu verlieren“) aus dem Jahr 2011 ist bis heute eine der wichtigsten kapitalismuskritischen Hymnen der Gewerkschaften und der Protestbewegung der Gelbwesten.

Mit seiner aktuellen Formation HK & Les Saltimbanks („HK und die Gaukler“) veröffentlichte Hadadi im März 2016 erneut ein Lied, das die Franzosen bis heute berührt. Das mitreißende „Ce Soir Nous Irons Au Bal“ ist seine kreative Antwort auf die Pariser Terroranschläge im November 2015. Es ist ein Appell, sich nicht der Angst und dem Terrorismus zu ergeben. Musikalisch bewegt er sich längst zwischen Chanson, Folk und Weltmusik. Sein Herz schlägt jedoch auch für Reggae. „Ich liebe Brel, aber mein absolutes Idol ist Bob Marley“, sagt der Sänger. „Er rebellierte mit seinen Liedern wie ‚War‘ gegen die Ungerechtigkeiten und sang gleichzeitig in ‚One Love‘ von der Notwendigkeit der Liebe.“

Genau das gelingt Kaddour Hadadi, der auch bereits vier gesellschaftskritische Romane veröffentlicht hat, jetzt erneut mit seiner aktuellen EP Danser Encore eindrucksvoll. Neben dem Titelsong sind dort gleich drei weitere Anwärter für künftige Mitsing-und-Tanz-Flashmobs vertreten. Mit den gefühlvollen und swingenden „Dis-leur Que L’On S’Aime, Dis-leur Que L’On Sème“ („Sag ihnen, dass wir uns lieben, sag ihnen, dass wir säen“), „Toi Et Moi, Ma Liberté“ („Du und ich, meine Freiheit“) und „Laissez-nous Travailler“ („Lasst uns arbeiten“) spricht er wieder den meisten Menschen aus dem Herzen. Protestsongs voller Poesie, das ist seine Leidenschaft. In einer Zeit, in der sich die Welt in einer großen Krise befindet, gibt es für Hadadi nichts Wichtigeres. Aus seiner Sicht entzweit das Diktat des Profits und des Konsums, das sich auch in den Entscheidungen der Coronamaßnahmen zeige, die Menschen immer mehr, und es zerstört Gesundheit und Umwelt. „Musik ist der beste Weg, um die Menschen wieder zusammenzubringen“, beschreibt er sein Engagement und fährt fort: „Toleranz ist gut, aber nur im Tanzen schreiten wir wirklich gemeinsam mit einem Lachen auf den Lippen.“

 

hk-officiel.com

Aktuelle Alben:

Danser Encore (EP; L’Épicerie des Poètes, 2021)
Petite Terre
(L’Épicerie des Poètes, 2020)

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