Oktober 1983: Die Liederbestenliste (LBL) wird aus der Taufe gehoben. Absicht: keine aus Verkaufszahlen ermittelte „top list“, sondern ein Empfehlungskatalog einer unabhängigen Jury. Ihr gehörten zeitweise über zwanzig Juroren und Jurorinnen aus Belgien, Österreich, der Schweiz und Deutschland an. Der damalige SWR-Hörfunkdirektor Bernhard Hermann schreibt in einer Werbebroschüre für die LBL: „Auch das zähle ich zur Grundversorgung im Radio: einen Sendeplatz für deutschsprachige Musik, die weder zum Musikantenstadl noch nach den Top Charts schielt. Dafür gibt es die Liederbestenliste in SWR2. Sie spiegelt ein Stück Vielfalt unserer Musikkultur.“
Text: Michael Kleff
Zwanzig Jahre später: Während im Landestheater Tübingen der Soundcheck für das letzte SWR-Liederfest über die Bühne geht, diskutieren ganz in der Nähe in einem Hotel Mitglieder der Jury über die über mehrere Monate hinweg unsichere Zukunft von Liederbestenliste, Liederpreis und Liederfest. Rechtzeitig vor Beginn des Konzerts am 1. November – mit Förderpreisträger Masen, einem grandios aufspielenden Liederpreisträger Tinu Heiniger und Hannes Wader als weiterem Programmpunkt – ist die Kuh vom Eis: Mit dem neu gegründeten Verein Deutschsprachige Musik findet die LBL nach dem Ausstieg des SWR eine neue Heimat. Im Gespräch mit SWR-Hörfunkdirektor Bernhard Hermann werden zudem alle Streitigkeiten ad acta gelegt. Der Verein kann den Namen „Liederbestenliste“ fortführen und das Archiv von zwanzig Jahren LBL, das ein wichtiges Stück Geschichte des deutschsprachigen Liedes dokumentiert, auf seiner Website anbieten.
Dass dies möglich wurde, lag unter anderem auch am einhelligen Aufschrei aus den Reihen von Liedermacherinnen und Liedermachern, Labels und auch Medienvertreterinnen und -vertretern (siehe Kasten „Stimmen“).
Noch einmal zwanzig Jahre später, Dezember 2024: Ein Blick auf die Website der LBL offenbart, dass die ehemals lange Liste der beteiligten Rundfunkanstalten – Belgischer Rundfunk, Deutschlandfunk, DeutschlandRadio Berlin, MDR Kultur, Rai Bozen, Schweizer Radio DRS1, SR2 Kulturradio, WDR 4 und Freies Radio Kassel – auf zwei private Sender geschrumpft ist. Und der Jury gehören nur noch dreizehn Mitglieder an. Recht versteckt findet sich dann unter dem Datum vom 27.9.2024 noch diese Ankündigung: „Um es gerade heraus zu sagen, scheint eine Fortsetzung der Herausgabe der Liederbestenliste über den 31.12.2024 hinaus kaum noch möglich zu sein. Was tun, ist also die Frage … Wer auf diese drängenden Fragen Anregungen hat, kann sich gerne per Mail mit uns in Verbindung setzen.“
Diesmal gab es jedoch keinen Aufschrei in der Szene – weder unter den Musikerinnen und Musikern noch unter den Rundfunkkolleginnen und -kollegen sowie den Labels. Auf Nachfrage erklärt Richy Thorstensen für den Trägerverein der LBL: „Der Aufruf ist quasi an die Allgemeinheit gerichtet gewesen. Einerseits mussten wir feststellen, dass der Rundfunk sich mehr und mehr desinteressiert zeigte, wir andererseits aber auch eine vernünftige Wertung nicht mehr garantieren können, da uns die dazu nötigen Juroren fehlen. Wir haben es deshalb als notwendig angesehen, überhaupt mal nachzufragen, ob denn noch jemand an der LBL Interesse hegt und auch bereit wäre, hier ein Ehrenamt zu bekleiden. Leider stößt dies nur auf sehr wenig Resonanz … Ich befürchte, … dass wir davon ausgehen müssen, dass die LBL zur Geschichte gehören wird.“
Das traurige Ende der Liederbestenliste passt in eine von generellen Veränderungen im Medienkonsum geprägten Hörfunklandschaft, die zudem unter einem kontinuierlichen Abbau kultureller Vielfalt leidet. Wie meinte Hannes Wader schon vor 22 Jahren beim ersten Todeskampf der LBL: „Die SWR-Liederbestenliste ist … ein viel zu seltenes Angebot für die vermeintliche Minderheit von Menschen, die das Radio zum Zu-Hören und nicht zum ‚Abschalten‘ benutzen. … Wenn eine öffentlich-rechtliche Anstalt eine solche Sendung einstellt, steht dies im eklatanten Widerspruch zum gesetzlichen Auftrag der Programmvielfalt und ist ein weiteres Kapitel in der Entwicklung hin zur Banalisierung des Funk- und Fernsehprogramms und der Verdummung der Menschen.“
Dazu passt eine Meldung des Evangelischen Pressedienstes (epd), wonach die Audiothek der ARD in „ARD Sounds“ umbenannt werden soll. Zumindest wenn es nach den Intendantinnen und Intendanten der ARD-Landesrundfunkanstalten geht. Nach epd-Informationen soll es auf der Audioplattform künftig verstärkt Gemeinschaftsproduktionen geben, „um sogenannten Hero-Content herzustellen, also Inhalte, die häufig abgerufen werden“. Und dazu würde die Liederbestenliste mit Sicherheit nicht gehören.
Stimmen von 2003
Konstantin Wecker: „… sehr viele Künstler haben … der Liederbestenliste viel zu verdanken – und wenn es nur die Tatsache ist, dass ihre Titel wenigstens ein einziges Mal im Rundfunk gespielt wurden …“
Manfred Maurenbrecher: „Sie nehmen dem Genre damit eine (fast die letzte) Bastion und den Charakter des Besonderen …“
Rolf Limbach, Conträr Musik: „… [man] könnte den ehemaligen Staatsminister für Kultur Julian Nida-Rümelin zitieren: ‚Böse Menschen senden keine Lieder‘.“ (Musikwoche 33/2003)
Franz Josef Degenhardt: „… ein weiterer Akt in der Tabula-rasa-Rage neoliberaler Bereinigung von überflüssigen, weil nichts einbringenden Marktsegmenten.“
Zum Autor: Michael Kleff ist ehemaliger Chefredakteur des folker und war sowohl als Juror sowie als erster Vorsitzender des Vereins deutschsprachige Musik lange Jahre aktiv an Gestalt und Ausrichtung der Liederbestenliste beteiligt.






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Warum wird nicht kommuniziert, dass es aktuell sehr heftige Bestrebungen gibt, die LBL wieder zu beleben. Am besten mit frischem (!) Wind. Oder bleiben diese Informationen an zwei Leuten hängen, so dass Du auch gar nichts davon weißt?
Ich wundere mich sehr.
Zum Zeitpunkt der Abgabe meiner Kolumne gab es „aktuell“ zwei Stellungnahmen zum Thema. Und zwar die Meldung „Zur Lage der Liederbestenliste“ vom 27.9.2024 und die Antwort auf eine entsprechende Anfrage bei Richy Thorstensen vom Trägerverein der LBL vom 28.6.2025. Beide sind in meinem Artikel zitiert. Ich habe seitdem keine weiteren Informationen erhalten. Und die Website der Liederbestenliste gibt kaum Anlass zu der Annahme, dass es „sehr heftige Bestrebungen gibt, die LBL wieder zu beleben.“ Die jetzt dort formulierte Ankündigung, „die Arbeit der Liederbestenliste spätestens im Oktober 2025 wieder aufnehmen zu können“, dürfte sich mit Blick auf den Kalender als haltlos erwiesen haben. Ich kann daher Richy Thorstensen nur noch einmal zitieren: „Ich befürchte, … dass wir davon ausgehen müssen, dass die LBL zur Geschichte gehören wird.“