Kolumne

Der unendliche Klang – Tendenzen der Bordunmusikszene

22. September 2025

Lesezeit: 5 Minute(n)

Audio mp3: »Kolumne«, 7:14 min

Die Stimme dieser Lesung wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Stephan Möbius und darf ohne ausdrückliche Genehmigung nicht weiterverwendet werden.

Im Jahr 1717 schreibt der Amtmann Lorenz Schimpff aus Nieder-Eichstädt: „Da haben sie einen Lehrjungen mitgehabt, der hat die ganze Hochzeit über auf der Baßgeige nichts gerumpelt als das tiefe C (notabene, da kam er nicht aus dem Tone)“. Der junge Bassist machte damals nichts anderes als einen „Bordun“ – einen gleichbleibenden, tiefen Ton, der sich unter die Melodie des gespielten Stückes legt. Wie die Vertreter und Vertreterinnen der heutigen Bordunmusikszene bediente er sich eines Prinzips ursprünglich mittelalterlicher Instrumentalmusik.

Text: Ralf Gehler

Bordunmusik historisch

Während die europäische Kunstmusik am Ende des Mittelalters die Harmonien entdeckte, verharrte die traditionelle Musik Mitteleuropas zu großen Teilen auf dem Prinzip des „Bordunierens“ – der einfachsten Form der Mehrstimmigkeit. Dudelsäcke, Drehleiern, Schlüsselfiedeln, Zithern und Maultrommeln brummten mit ihren Borduntönen durch die meist ländliche Tanzmusik der frühen Neuzeit und kümmerten sich – wie der Musikantenlehrjunge des 18. Jahrhunderts – nicht um moderne harmonische Gerüste der Musikausübung.

In einigen abgelegenen oder ethnisch kulturell eigenständigen Gegenden Europas erhielten sich alte Musikinstrumente mit Bordunfunktion bis ins 20. Jahrhundert. Für Deutschland wären hier etwa das Spiel von Dudelsäcken der Sorben, auf der Schwäbischen Alb und im angrenzenden tschechischen Egerland zu nennen.

Der Beginn des „Revivals“

So weit zu den Voraussetzungen für jene Ereignisse, die sich seit den 1970er-Jahren in Sachen „Bordunmusik“ berichten lassen. Mehrere Komponenten bewirkten in dieser Zeit das Entstehen einer neuen Auseinandersetzung mit den fast vergessenen Instrumenten. Der Gedanke einer historischen Aufführungspraxis im Rahmen der Alten Musik machte auch vor den Borduninstrumenten nicht Halt. Man wollte schon wissen, wie zum Beispiel jene Instrumente klangen, die Michael Praetorius 1619 in seinem Werk Syntagma Musicum beschrieb und abbildete. Hinzu kamen neue Ideen der musikalischen Heimatpflege. Im Süden der Bundesrepublik ersannen Heimatpfleger – wie der Regensburger Adolf J. Eichenseer und der kreative Instrumentenbauer Tibor Ehlers – die Wiederbelebung des Spiels des „Bockes“, des letzten in Deutschland gespielten einheimischen Dudelsacktyps. Ehlers entwickelte nach historischen Abbildungen die „schwäbisch-alemannische Sackpfeife“ und den „altdeutschen Dudelsack“ mit konischer Spielpfeife und Doppelbordun. In Ost und West entstand in den 1970er-Jahren die Folkszene, die die Orientierung an irischen oder amerikanischen Vorbildern ablegte und nach eigenen musikalischen Wurzeln suchte – auch nach dem Klang jener Borduninstrumente, die einst die traditionelle Musik Mitteleuropas prägten.

 „Sie entwickelt sich – die Bordunszene. Das ist toll.“

Die Wissenschaft half kräftig mit. Marianne Bröcker schrieb das Standardwerk Die Drehleier 1973. Museen ließen ihre Musikinstrumente vermessen. Musikwissenschaftler wie Erich Stockmann unterstützten das „Revival“ in der DDR. In der Bundesrepublik war es der Frankfurter Kurt Reichmann, der die Wiederbelebung des Drehleierspiels maßgeblich bestimmte. In der DDR waren Enthusiasten wie Bernd Eichler, Klaus Stecker, Bodo Schulz oder Jo Meyer prägend für die Szene der Siebziger- und Achtzigerjahre.

Tendenzen

Eine einheitliche Bordunszene gab es in Deutschland vielleicht lediglich zu dieser Zeit – der Zeit der Entwicklung und des Widerstreits der Erfahrungen und des musikalischen Wollens. Das was wir heute unter der „Bordunszene“ verstehen, begreifen wir allgemein ohne die Vertreter und Vertreterinnen der schottischen und irischen Dudelsacktradition und ohne die Mittelalterszene Europas, die anfangs durchaus dazugehörten. Sie bilden mittlerweile eigene Foren.

Nach dem Start des „Revivals“ standen bald musikalische Standards im Raum. Diese entstanden auch durch den Blick über die deutschen Grenzen hinaus. Fast überall in Europa war man etwas weiter als hier, hatte zum Teil lebendige Traditionen vorzuweisen und großartige musikalische Ideen. Man wollte spielen wie Blowzabella, Garmarna, La Chavannée, die Battlefield Band und so weiter. Mit den musikalischen Vorbildern entwickelten sich Standards im Instrumentenbau. Ein Beispiel: Der in der Szene am weitesten verbreitete Dudelsacktyp „Schäferpfeife“ wird heute im Allgemeinen in G und C gespielt und hat zwei oktavierte Bordune begrenzter Lautstärke in G. Die Griffweise – halbgeschlossen und mit zweitem „Moll“-Daumenloch – folgt den zentralfranzösischen Dudelsäcken. Dieser historisch anmutende Dudelsacktyp hat sich europaweit durchgesetzt. Mit der „Schäferpfeiff“ des Michael Praetorius von 1619 hat er lediglich äußerlich Ähnlichkeit. Es hat eine überregionale Normung stattgefunden.

Ähnliches erkennt man bei der Drehleier. Als der Wiener Instrumentenbauer Wolfgang Weichselbaumer vor vielen Jahren seinen unverwechselbaren weichen Sound für die Drehleier schuf, ahnte er wohl nicht, dass genau dieser Sound mittlerweile das Klangideal der Szene europaweit bildet. Viele Instrumentenbauer ahmen ihn nach. So wunderbar der Gedanke eines geeinten „Bordun-Europas“ ist, so wenig hat die Sache heute etwas mit der Auseinandersetzung mit regionalen Traditionen zu tun. Dieser Gedanke, der einst die Szene entstehen ließ, ist in Deutschland fast verschwunden.

Apropos weicher Sound: In der „Bordunmusik“ Europas geht es mittlerweile immer weicher und weniger „bordunig“ zu. Der belgische, deutsche und auch der skandinavische Klang traditioneller Musik wirken immer perfekter, grooviger und tänzerischer. Auch aufgrund der beschriebenen instrumentenbaulichen Standards, anspruchsvollen und Tänzerinnen und Tänzern – und natürlich Youtube. Das ist ja eigentlich toll. Die diatonische zweireihige Handharmonika und die vollchromatische Nyckelharpa mit ihrem typischen harmonisch-weichen Klang verdrängen mittlerweile immer mehr Dudelsack und Drehleier. Über die Bordune wird hinwegharmonisiert. Ihre musikalische Funktion dient nur dem Klangcharakter des jeweils gespielten Instruments.

Das alles ist gelebte Entwicklung. Sie entwickelt sich – die Bordunszene. Das ist toll. Mir persönlich fehlt der Schmutz, der harte Sound der Bordune, das Krächzen von Schnarrsaiten und Schalmeien. Mir fehlen auch mehr mutige Ideen mit neuen Klängen aus regionalen Traditionen und neue Nachbauten historischer Instrumente. Vielleicht hilft ein offener Blick auf jene Bordunmusikanten und -musikantinnen, die sich nicht unbedingt zur Bordunszene zählen und deren Spiel viel zu wenig Beachtung findet – zum Beispiel die Dudelsack- und Drehleierspielenden im Osten und Süden Europas.

Ach – und ein bisschen Rock ’n’ Roll wäre auch nicht schlecht. 

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Aufmacher:
Dudelsackabbildung im Syntagma Musicum von Michael Praetorius aus dem Jahr 1619

Zum Autor: Ralf Gehler ist Musikant, Volkskundler und Organisator rund um die traditionelle Musik. Er musiziert in verschiedenen Bandprojekten und organisiert unter anderem in Schwerin das Windros-Festival und das Zentrum für traditionelle Musik. www.tradmusikzentrum.de

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