Ein deutsch-britischer Geiger aus der Schule des legendären Violinisten und Musikpädagogen Yehudi Menuhin, ein norwegischer Hardangerfiedler und ein schwedischer Nyckelharpavirtuose: Max Baillie, Olav Luksengård Mjelva und Erik Rydvall mixen seit drei Jahren als Lodestar Trio den hinreißenden Cocktail „Bach to Folk“. Trotz aller Reisehindernisse durch die Coronamaßnahmen und nur drei Livekonzerten schaffte es das Trio, im vergangenen Sommer in der norwegischen Bergstadt Røros sein erstes Album einzuspielen.
Text: Jens-Peter Müller; Fotos Ard Jongsma
2019 war Erik Rydvall Hauskünstler bei der fünfzehnten Ausgabe des folkBALTICA-Festivals an der deutsch-dänischen Grenze und präsentierte neben der Formation Nordic und dem Duo mit Olav Mjelva auch das vergleichsweise junge Lodestar Trio. Beim diesjährigen Festival im Mai spielte dieses dann mehrere Konzerte und unternahm mit einem dänischen Fotografen eine Session für die Illustration ihres Debütalbums, das dieser Tag erscheint. „Zu Bachs Zeiten hat man nicht in musikalischen Genres gedacht“, erzählt Max Baillie. „Barockmusik und Volksmusik waren und sind sich viel näher, als man heutzutage denkt.“ Bach habe zum Beispiel einen intensiven Kontakt zu lokalen Musikern und deren Musik gehabt. Und Erik Rydvall ergänzt, dass in Schweden die ersten Volksmusikaufzeichnungen von den Kirchenmusikern stammen, zu deren Pflichten und Qualifikationen neben dem Orgelspiel auch das Spielen von Tanzmusik auf der Geige gehörte. „Das Element von Improvisation findet man in beiden Traditionen, und letztlich sind Barockmusik und Volksmusik beides groove-basierte Musik“, betont Baillie.
Lodestar Trio bei folkBALTICA 2022 Foto: Ard Jongsma
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Virtuose Folkbands wie das dänisch-schwedische Trio Dreamers’ Circus oder in Irland schon in den Neunzigern De Dannan mit Meisterfiddler Frankie Gavin haben ihr Publikum mit folkigen Arrangements von Bach-Stücken zum Staunen und Jubeln gebracht. Allerdings nicht so programmatisch und vielseitig wie das Lodestar Trio. Acht der siebzehn Tracks des Albums sind Bearbeitungen von Bach-Kompositionen aus seinen Cellosuiten, Violinsonaten und Orchestersuiten, darunter das bekannte „Air“. Neben vier Eigenkompositionen des Trios erklingen auch Sätze aus Werken der Barockkomponisten Jean-Baptiste Lully und François Couperin.
„Barockmusik und Volksmusik sind sich viel näher als man heutzutage denkt.“
Bach To Folk ist keine Effekthascherei, ist kein ausgedachtes Konzept, sondern das beglückende Resultat eines langen Entwicklungsweges jeder der drei Musiker. „Es läuft einiges falsch in der klassischen Ausbildung“, erzählt Baillie. „Ich habe versucht, das in meinem Leben zu korrigieren und musste oft kämpfen, um meinen eigenen, eher kurvenreichen Weg im Vergleich zu anderen Violinisten zu finden, eine Geigentechnik zu erlernen, die mir künstlerische Freiheiten ermöglicht. Aber ich bin dankbar für diesen Kampf, weil ich auf dem Weg viel Neues und Inspirierendes entdeckt habe.“ Beeindruckend ist die Liste der Künstlerinnen und Künstler, mit denen Baillie unter anderem schon zusammengearbeitet hat: Steve Reich, John Williams, Bobby McFerrin, Björk. „Was ich von den Folkgeigern lernen kann, ist die unglaubliche Bogentechnik. Alle klassisch ausgebildeten Musiker staunen darüber. Sie versuchen es nachzumachen, aber du wirst auf der Welt keinen einzigen klassischen Geiger finden, der das wirklich kann.“
Foto: Ard Jongsma
Den Kampf mit einer zu festen Tradition kennt auch Olav Mjelva. „Man kann in einem gewissen Sinne von einer ‚Volksmusikpolizei‘ sprechen, gerade in Norwegen. Heute ist es nicht mehr so streng, aber als ich angefangen habe, die Tradition zu lernen, hat man mir genau gesagt, wie ich die Verzierungen machen muss, wo einen Aufstrich, wo einen Abstrich. Es gab keine Alternativen.“
Erik Rydvall hat andere Erfahrungen. „Ich habe an der Royal Academy of Music in Stockholm die großartigste Folkmusikausbildung bekommen. Aber ich sehe das Problem, dass in der Volksmusik der Anreiz fehlt, das nächste technische Level zu erreichen. Man braucht es für die Stücke nicht, und es gibt kein Training.“ Um sich technisch weiterzuentwickeln, begab sich Rydvall auf drei große musikalische Reisen. Zuerst mit einer Flamencogruppe, bei der er mitbekam, „wie schnell man überhaupt spielen kann“. Dann traf er Olav Mjelva, durch den er die ungewöhnliche Tonalität und die besonderen Tonskalen der Hardangerfiedelmusik kennenlernte. Und heute, so erzählt er, übe er zu Hause nur noch klassische Geigenliteratur, besonders aus dem Barock – Bach, Paganini, Vivaldi – auf seiner speziell für ihn und seinen Kollegen Olof Johansson von der Gruppe Väsen in Violinlage gebauten Nyckelharpa. „Ich bin vor dem Lodestar Trio niemals in einer musikalischen Situation gewesen, wo es diese technischen Möglichkeiten bei allen gab, so frei und kreativ spielen zu können – auch aufgrund der ganzen ‚Polizisten‘, die dir gesagt haben, dass du so und so üben, üben, üben musst! Man muss kämpfen, um irgendwann vielleicht das Glück zu haben, damit aufhören zu können und frei zu sein.“
Nachdem Max Baillie ein Video der beiden Skandinavier von einem Freund bekommen hatte, nahm er gleich die erste Gelegenheit wahr, nach Røros in die Heimatstadt Olav Mjelvas zu reisen, wo man drei volle Tage lang zusammenspielte. Der starke Bezug zum Norden klingt auch im Namen Lodestar an, was so viel wie „Leitstern“ bedeutet, und macht sich natürlich an den Nationalinstrumenten Norwegens beziehungsweise Schwedens, an Hardangerfiedel und Nyckelharpa bemerkbar. Beide verfügen neben den Melodie- über Resonanzsaiten, die nicht mit dem Bogen gespielt werden wie die Hauptsaiten. „Man bekommt dadurch so einen ‚blumigen‘ Klang“, meint Max Baillie. „Den würde ich mit der Resonanz vergleichen, die ein Kirchenraum hervorbringt. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass Bach die Erinnerung, dieses Gedächtnis von der Resonanz eines Kirchenraum in seine Kompositionen eingebaut hat.“
Aktuelles Album: Bach To Folk (Naxos, 2022)
Videolinks:
„Air“ von Johann Sebastian Bach: www.youtube.com/watch?v=BD6-M_fXTxE
„Prélude“ der Cellosuite Nr. 6 von Johann Sebastian Bach: www.youtube.com/watch?v=2amvNUMbyNQ
„Les Barricades Mystérieuses“ von François Couperin: www.youtube.com/watch?v=w58gwv5DN3Q
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