Reinhard Mey präsentiert im stolzen Alter von 81 Jahren sein 29. Studioalbum, Nach Haus. Im Interview spricht er ausführlich darüber, wie sich das Schreiben, die Musik und sein Leben mit dem Alter verändern.
Interview: Wolfgang Weitzdörfer
Herr Mey, wenn man mit über achtzig Jahren ein neues Album veröffentlicht, macht man das ausschließlich aus Liebe und Leidenschaft, oder?
Natürlich, auch mit achtzig ist die Leidenschaft zum Schreiben, die Freude, die Lieder im Studio einzusingen, genauso lebendig wie mit dreißig. Es ist das alte Fieber. Nein, es ist noch schöner, noch spannender, weil man ein bisschen mehr von dem versteht, was da vor sich geht mit dem großen Stein, den man mit dem Plan, ein neues Album zu machen, ins Rollen gebracht hat. Da ist die Freude, die Weggefährten wiederzusehen, die mit mir seit vielen Jahrzehnten verbunden sind, die ich aber nur im Studio alle paar Jahre wiedersehe. Da ist die Zeit, wenn alles eingespielt und aufgenommen ist, das Booklet, das Begleitbuch viele Male Korrektur gelesen, endlich gedruckt ist, die Plattenfirma die Veröffentlichung plant. Da ist diese Zeit, die man dem Wein lässt, um in Ruhe zu reifen. Das alles kann ich heute viel intensiver und lustvoller und dankbarer wahrnehmen.
Hätte der junge Reinhard 1967 wohl geahnt, dass er 57 Jahre später sein 29. Studioalbum veröffentlichen würde?
Darüber hat der sich 1967 keine Gedanken gemacht. Ich habe nur daran gedacht, das nächste Lied zu schreiben, die nächste Reise durch die Folkclubs, Jazzkeller und Kleintheater zu machen. Ich hatte meinen Weg gefunden, ich wollte singen, und ich wollte, dass das bleibt. Vierzig wäre schon eine schöne Option, dachte ich. Dann war ich auf einmal fünfzig. Und nun bin ich tatsächlich jenseits der achtzig und immer noch neugierig.
Fällt Ihnen das Schreiben heute leichter oder schwerer als früher?
Ich kann mich heute total auf mich verlassen. Ich weiß, wenn ich mich zum Schreiben zurückziehe, dann werde ich auch etwas schreiben. Ich erinnere mich an frühe Jahre, in denen ich mit großen Ängsten an den Tag dachte, an dem ich mir vorgenommen hatte, zu schreiben. Ich ging dann in meine Dichterstube mit dem Vorsatz, sie nicht zu verlassen, bevor ich die erste Zeile gefunden hatte. Und ich fand sie – immer. Ich lernte, dass mit Ruhe, Hinwendung und Geduld die Kreativität dem Willen gehorcht. Mit dieser Gewissheit wandelte sich im Lauf der Jahre die Angst vorm leeren Bogen Papier in eine unbändige Vorfreude auf das kommende Schreiben.
Wie ist es allgemein heute für Sie, musikalisch aktiv zu sein? Inwieweit sind die Herausforderungen anders als früher?
Die Hallentournee 2022 hatte ich so organisiert, dass ich sie problemlos meistern konnte. Ich wusste genau, was an Anstrengung auf mich zukommen würde, und habe mich intensiv darauf vorbereitet. Aber auch dabei waren wieder die Lust und die Vorfreude die nie versiegenden Kräfte, die mich getragen haben.
Wie sind Sie an die neue Platte herangegangen?
Ich habe wie immer Ideen, die zu Liedern werden könnten, gesammelt, notiert und in der großzügig geplanten Schreibzeit ausgearbeitet.
Warum heißt das Album Nach Haus?
Der Spruch von Novalis „‚Wohin gehn wir denn?‘ – ‚Immer nach Hause‘“ hat für mich eine tiefe Wahrheit. Nach Haus – das bedeutet für mich Wärme, Geborgenheit, sicherer Hafen. Ich bin in meinem Leben viel gereist, hab viel gesehen, viel erlebt, aber das Schönste an all meinen Reisen war immer das Nachhausekommen.
Wie wichtig ist es Ihnen, sich politisch zu äußern?
Ich äußere mich gern zu allen Dingen des Lebens, egal worum es sich handelt. Es gibt kein Tabuthema. Alles ist politisch, das ganze Leben ist politisch, jede Meinungsäußerung. Zur aktuellen Tagespolitik muss ich mich nicht ständig äußern, jedenfalls nicht im Lied – ich nehme nie auf aktuelle Geschehnisse Bezug, geht ja auch gar nicht, zwischen aktuellem Ereignis und Lied lägen Monate, Jahre. Ich bin kein Politiker, kein Missionar, kein Eiferer, ich gehöre weder einer Kirchengemeinschaft noch einer Partei an.
Wie wichtig sollte es für Liedermacher sein, ihr Medium politisch zu nutzen?
Für politische Liedermacher, wie Franz Josef Degenhardt einer war oder Dieter Süverkrüp, vermutlich das Wichtigste. Das Lied war ihnen das Vehikel, um eine politische Überzeugung zu transportieren. Ich bin angetreten, um uneingeschränkt über alles zu schreiben und zu singen, was ich beobachte, was ich schön, traurig, scheußlich, lustig oder albern finde, so, wie ich es wahrnehme. Ich wollte Geschichten erzählen. Ich hatte immer den Drang, frei zu sein und über das zu schreiben, was ich wollte.
Kann ein politisches Lied überhaupt etwas bewirken?
Ich glaube nicht, dass ein Lied allein eine Umwälzung auslösen kann, aber es kann Zuhörerinnen und Zuhörer auf einen Missstand hinweisen, sie zum Nachdenken bringen. Ich denke an mein Lied „Nein, meine Söhne geb ich nicht“. In der Zeit, als es entstand, bekam ich viele Briefe von jungen Menschen, denen das Lied bei der Entscheidung, den Kriegsdienst zu verweigern, geholfen hat; Briefe von Eltern, die schrieben, dass sie ihre Kinder genau wie wir in diesem Sinne unterstützen würden. Und heute, da allerorten Kriegsgeschrei und der Ruf nach neuer Wehrpflicht ertönt, sehe ich an über achtzehn Millionen Aufrufen des Videos, dass das Lied noch immer zur Meinungsbildung beiträgt.
Wann haben Sie Ihre Liebe zum Wort, wann die zur Musik entdeckt?
Die Liebe zur Musik ganz sicher mit vier Jahren auf den Knien meines Großvaters am Klavier. Dann später am Klavier – ohne Großvater. Mein Elternhaus war voller Musik, mein Vater spielte ebenfalls Klavier, meine Mutter hatte eine wunderschöne Sopranstimme, im Radio und später auf dem Plattenspieler erklangen Mozart, Bach und Händel. Meine große Schwester „erzog“ mich mit AFN, Rock, Jazz und Swing. Die französischen Chansons und damit die Liebe zum Wort mit Musik habe ich als Austauschkind mit elf Jahren in einer französischen Familie gefunden, die genau wie meine Eltern von Musik beseelt war. Natürlich haben mich, seit ich zuhören konnte, Gedichte und Balladen fasziniert, die mir meine Eltern vorlasen und die ich später mit Begeisterung auswendig lernte: „John Maynard“, „Nis Randers“, „Der Feuerreiter“.
Sie erzählen meisterhaft Geschichten. Haben Sie auch mal darüber nachgedacht, Romane oder Erzählungen zu schreiben? Oder war die Musik immer zwingend dabei?
Ich wollte immer Lieder schreiben. Geschichten erzählen und sie musikalisch begleiten. Die Kurzform ist der Reiz, und das Spiel mit dem Reim die wahre Herausforderung. Wenn der gelungen und richtig gesetzt ist, gibt er der Zeile, der Erzählung eine überraschende Wendung, dann geht plötzlich ein Licht an. Und wenn ein gutes Gedicht sich mit einer guten Melodie vereint, geschieht etwas Faszinierendes, das direkt den Weg ins Herz und in die Seele findet und dem kein Wille widerstehen kann. Dieses Phänomen gibt es nur im Lied, und so treibt mich heute wie einst die Suche nach dem vollkommenen Lied.
Sie sind Vorbild für bestimmt zwei Generationen Liedermacher. Welchen Rat haben Sie an jemanden, der oder die damit anfangen möchte?
Anfangen und nicht aufhören.
Wie sehen Sie die Szene heute – gerade auch im Vergleich zu Ihren Anfängen?
Ich glaube, die Szene heute ist nicht mit der Zeit zu meinen Anfängen vergleichbar. Es gibt inzwischen ganz andere Geschichten und andere (Pop-)Musik. Die jungen Liedermacher haben es unglaublich schwer, weil es kein Podium für sie gibt, keine Bühne, auf der sie sich ausprobieren können, um sich nach und nach einen Namen zu machen. Es gibt keine Auftrittsmöglichkeiten, außer vielleicht noch bei Stadtteilfesten, in Gaststätten oder kleinen Folkclubs. Es gibt keine einzige Fernsehshow, keine Rundfunksendung mehr, bei der sie ihre Lieder vorstellen könnten. In unseren großen Fernsehshows, die alle gleich sind, egal wer sie präsentiert, gibt es ausschließlich Schlager und dazu eine Handvoll immer gleicher Interpreten – gleicher Inhalt, gleiche Musik, gleicher Rhythmus. Da braucht es verdammt viel Mut, um nicht an der Szene zu verzweifeln.
Wie lange möchten Sie noch weitermachen? Ihr Freund und Kollege Hannes Wader hat bereits aufgehört – auch wenn er „Zwei Musketiere“ gemeinsam mit Ihnen singt. Werden Sie ihm folgen?
Ich lebe im Hier und Jetzt und habe mir keinen festen Termin zum Aufhören vorgemerkt …
Selbst wenn Sie, wie Herman van Veen, so lange wie möglich weitermachen werden – wie sieht Ihre Karrierebilanz zum jetzigen Zeitpunkt aus?
Ich bin zufrieden – „Ich hab alles gehabt, was will ich mehr?“Zitat aus dem Lied „Was will ich mehr?“ vom Album Das Haus an der Ampel
Letzte Frage: Werden Sie die dreißig vollmachen?
Ich kann nichts versprechen. (lacht)
Aktuelles Album:
Nach Haus (Universal, 2024)
Aufmacherbild:
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