In Stuttgart steht ein Haus, das niemand sehen kann, sehr wohl aber hören. Und obwohl Wohnraum knapp ist, kann einziehen, wer will – je mehr, desto besser. Nur eine Bedingung gilt für alle: Sie sollten ein gewisses Engagement für handgemachte Musik mitbringen. Somit sind sowohl Musikerinnen und Musiker als auch aktiv – durch Tat oder Mittel – Unterstützende willkommen. Denn Spielmöglichkeiten zu schaffen, klappt besser gemeinschaftlich, wie sich zeigt.
Text: Imke Staats
Die Adresse des Hauses ist feierabendkollektiv.org. Ein wenig östlich vom Stuttgarter Zentrum, in der Saulgauer Straße 13, befindet sich die Verwaltung des dazugehörigen gleichnamigen Vereins. Im Moment bewohnen sechzehn Leute dort einen virtuellen Raum als aktive Musizierende oder im Umfeld des Musikmachens Aktiver. Einer von ihnen ist Tobias Dellit, der sich selbst als klassischen Liedermacher bezeichnet.
Im Gegensatz zu dem, was er in seinen Liedtexten singt, die gern einen Schuss bitterer Alltagsweisheit enthalten, glaubt er hier an das Gute im Menschen: die Solidarität in der Gesellschaft. Die konnten er und die anderen Affinen der handgemachten Musik in der hohen Beteiligung der Menschen für die „gute Sache Livemusik“ erkennen. Im Jahr 2012 taten sich zwei Ur-Stuttgarter zusammen zur Gründung und Taufe des Feierabendkollektivs: der Chansonier Max François und der Liedermacher Micha Schlüter, der Swing und Punk aufeinandertreffen lässt. Die beiden haben sich den Namen ausgedacht, bei dem die Entspannung oder das Austoben nach dem Arbeitstag mitklingen. Jedoch waren Orte, an denen diese Erfüllung möglich war, in Stuttgart knapp. Was sich in den letzten zehn Jahren verstärkte, infolge der umfassenden Baumaßnahmen zum Eisenbahnknoten Stuttgart 21. Also war die ursprüngliche Intention, Auftrittsmöglichkeiten in kleineren oder mittleren Locations für die Liedermacherszene zu generieren und im nächsten Schritt dort Konzertreihen zu etablieren.
Es fanden sich Plätze in Lokalen wie dem Café Stella (mittlerweile geschlossen) oder der Holzmaler-Bar, aber auch in Stadtteilzentren, einem Antiquariat oder einem Seniorenheim. Niederschwellige Ansprüche an die Auftrittsbedingungen erleichtern die Machbarkeit, stellen die Kunst des Menschen in den Vordergrund und machen einen besonderen Eindruck. Tobias Dellit erzählt von seiner Konzertserie namens „Tobis Teppich“, bei der einfach ein ausgerollter Teppich die Bühne darstellte. Im Allgemeinen kam die Idee gut bei den Betreibenden der Spielorte an. Einige öffneten sich sogar erstmalig für musikalische Veranstaltungen. Darüber hinaus zogen die neuen Auftrittsmöglichkeiten mehr Nachwuchs-Künstlerinnen und -künstler an, sodass sich auch genug Potential für neue Festivals sammelte.
Logo Feierabendkollektiv
Seit 2019 holt das sommerliche Festival Bunter Beton – das so heißt, weil es auf dem obersten Deck eines Parkhauses stattfindet – Leute aus der Gegend und ganz Deutschland zusammen, auch bereits etablierte wie zum Beispiel die Indierockerin Ilgen-Nur (wuchs nahe Stuttgart auf, zog dann nach Hamburg). Dem Feierabendkollektiv gehört dabei ein ganzer Abend. Gerade über die Bühne ging ein anderes selbst organisiertes Festival, Vive la Vie, quasi das Hausfest des Vereins, bei dem die Belegschaft aufspielt. Dieses Jahr hatte es Jubiläum – am 21. und 22. Mai fand es zum zehnten Mal statt.
Die Stuttgarter schauen aber auch über den Rand ihres gut gefüllten Tellers hinaus. So unterstützt das Feierabendkollektiv auch andere Festivals wie zum Beispiel das ebenfalls im Mai stattfindende Thüringer Paradiesvogelfestival auf Schloss Weitersroda, bei dem sich gleichermaßen Künstler und Künstlerinnen dieser variantenreichen Sparte tummeln.
„Unser Vorteil ist die Schlagkraft eines eingeschworenen Teams.“
All das würde – als ehrenamtliches Feierabendprojekt – niemals funktionieren, wenn seine Macher und Macherinnen nicht gut am selben Strang zögen. „Unser Vorteil ist die Schlagkraft eines eingeschworenen Teams“, sagt Dellit. Was auch etwas darüber aussagt, dass Erfahrungen und Knowhow ein reibungsarmes und effizientes Handeln ermöglichen. Im Haus wohnen nicht nur ganz unterschiedliche „Barden“ und „Bardinnen“ in friedlicher Koexistenz, sondern auch Leute, die sich mit Technik und Organisation auskennen, und solche, die Vereinsaufgaben übernehmen.
Und dann ist da noch das liebe Geld. Ohne kann auch ein eingeschworenes Team nicht viel schaffen. Nötiges Equipment und Aktivitäten wie Organisation, Kommunikation, Pressearbeit sowie anfallende Mieten und Gagen müssen bezahlt werden. Viel wird bereits ehrenamtlich und mit privaten Mitteln bestritten oder auch durch Mitgliedsbeiträge und eingeworbene Spenden. Hier besteht Offenheit: den Spendenstand und Erfolg kann jeder und jede auf der Website sehen. Die Zahl der Unterstützenden wächst und auch die der unterstützten Musikmenschen hat die dreihundert längst überschritten. Zudem gibt es inzwischen eine städtische Projektförderung, die hilft, die Planung ein wenig mehr abzusichern. Aber erst seit 2018, in den ersten Jahren trug sich das Feierabendkollektiv selbst.
Während der Coronazeit mussten außer dem Anschub aus Mitteln des „Kultur-Sommer“-Förderprogramms der baden-württembergischen Landesregierung und Zugaben zur Einhaltung nötiger Hygieneauflagen keine Coronahilfen in Anspruch genommen werden. Als wirksame Maßnahme gegen die Unsichtbarkeit – oder treffender Un-„hör“-barkeit – während der Pandemie, besonders zu Zeiten des Lockdowns, entwickelte das Kollektiv schnell eine digitale Singer/Songwriterbühne, welche Konzertclips gratis zum Streamen anbot. Seit dem Start von Feierabend TV vor drei Jahren sind schon mehr als einhundertfünfzig Sendungen ausgestrahlt worden. Abgesehen von der Chance, weiter in der Öffentlichkeit präsent zu sein, war und ist das Mitmachen zusätzlich attraktiv: Für jedes ausgestrahlte Konzert zahlt der Verein sowohl den Auftretenden als auch den Menschen an der Technik eine feste Gage.
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