Ukraine

Der Krieg ist auch hier angekommen und betrifft uns direkt

11. Mai 2022

Lesezeit: 5 Minute(n)

Der aus dem ukrainischen Charkiw stammende Musiker, DJ, Produzent und Autor Yuriy Gurzhy lebt seit den Neunzigern in Berlin. Bekannt ist er unter anderem für seine Arbeit mit der Band RotFront (siehe folker 4/2014) und die mit Wladimir Kaminer initiierte Partyreihe Russendisko. Zehn weitere Sampler gehen auf sein Konto, frisch erschienen dabei Rusishe krigshif, shif zikh in dr’erd – Jewish Voices Condemn Russia’s War Against Ukraine Vol. 1. Im Berliner Tagesspiegel schreibt Gurzhy seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine ein Kriegstagebuch, in dem er seine Eindrücke schildert. Für den folker lässt er – ebenfalls in Tagebuchform – einige Ereignisse der ersten beiden Kriegsmonate Revue passieren.
07. März

Explosionen, fliegende Raketen, Sirenen, am Tag und in der Nacht. Sie sind neue Elemente des Alltagsoundtracks so vieler ukrainischer Städte geworden.

Ein neues Meme, das der ukrainische Musiker Yurko Yurchenko postet, ist nur ein Satz, ein überraschendes Zitat aus dem Song „Hochesh?“ („Soll ich?“) der russischen Rockqueen Zemfira, die für ihre depressiven Liebesballaden bekannt ist. In diesem Lied von 2001 zählt sie auf, was sie alles für ihre Liebe machen würde. „Magst du vielleicht Orangen? / Sonne statt Lampe? / Oder soll ich dir was Schönes erzählen?“ Und dann eben der Satz, den Yurchenko zitiert, der in der heutigen Ukraine eine ganz andere Bedeutung bekommt: „Soll ich die Nachbarn umbringen, die deinen Schlaf stören?“

Auf den Bildern der letzten Tage sieht man Yurchenko in Militäruniform mit einem Gewehr in der Hand. Ähnliche Fotos gibt es auch von anderen ukrainischen Musikern, die ich kenne. Eigentlich von fast allen. Und wenn mich deutsche Musikjournalisten und -journalistinnen, die sich plötzlich für Musik aus der Ukraine interessieren, nach den neuesten Songs aus meiner Heimat fragen, muss ich sie leider enttäuschen, denn die Kulturschaffenden des Landes haben gerade anderes zu tun.

Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus dem Reich der „Denazifikatoren“, wie es aussieht. Heute erreicht mich die öffentliche Videobotschaft einer Band aus Sankt Petersburg, die oft auch auf deutschen Bühnen auftritt. „Wir sind Musiker“, schreiben sie. „Unsere Mission ist es, Musik zu machen. In unserem neuen Video spielen wir zwei Tänze als Medley, und zwar den ukrainischen Hopak sowie den russischen Volkstanz Kamarinskaja – weil sie einfach cool zusammen klingen.“ Wenn ich das lese, fällt mir ein, dass diese eigentlich ganz netten Kerle, ohne es zu wissen, gerade kurz und knapp das zusammengefasst haben, was falsch an Russland ist: Egal, wie lange man zu erklären versucht, dass Ukrainer und Ukrainerinnen sich nicht als Brudervolk der Russen fühlen – umso weniger in einem Moment, in dem Tausende russische Soldaten die Ukraine und ihre Bürgerinnen und Bürger physisch vernichten –, da kommen die „Brüder“ aus dem Nachbarland und versuchen, alle vom Gegenteil zu überzeugen.

„Die Kulturschaffenden der Ukraine haben gerade anderes zu tun.“

20. März

Letzte Woche hatte mein Sohn im Musikunterricht die Aufgabe, seiner Klasse einen Antikriegssong beizubringen. Angesichts der Situation hat er sich für „Soldat“ entschieden – eine akustische, an Bob Marley erinnernde Pazifismushymne, die das Duo 5’nizza aus Charkiw 2003 herausbrachte und die zum Hit wurde, den man oft und gern nicht nur in der Ukraine im Chor sang. In nur wenigen Monaten nach der Songveröffentlichung stiegen die Jungs von 5’nizza von Undergroundhelden zu Superstars auf. Sie spielten auf der ganzen Welt, große Clubs in Kiew, Moskau, Berlin und London waren ausverkauft. Ein paar Jahre später gingen sie getrennte Wege. Wenige Tage nach Beginn des Krieges sah ich im Netz das Tourplakat von SunSay, der neuen Band einer der beiden Sänger, mit der Ankündigung dreier Konzerte in Russland. Serhij Babkin, die andere Hälfte des Duos, veröffentlichte währenddessen gerade eine neue Version von „Soldat“ – musikalisch unverändert, schon bei den ersten Akkorden ist der alte Song erkennbar, aber der Text ist komplett umgeschrieben. Die aktualisierte Fassung ist nun viel konkreter als das vor neunzehn Jahren aufgenommene Original: „Ich bin ein Soldat, / Aber ich wollte diesen Krieg nicht. / Ich bin ein Soldat, / Ein Held der freien neuen Welt. / Ich bin sehr sauer und sehr stark, / Und von solchen wie mir / Haben wir eine Million hier. / Russisches Kriegsschiff, fick dich!“

Cover des Samplers Rusishe krigshif, shif zikh in dr’erd – Jewish Voices Condemn Russia’s War Against Ukraine Vol. 1

22. März

Vor sechs Jahren habe ich eine Kompilation mit neuer ukrainischer Musik zusammengestellt. Es hat sich für mich richtig angefühlt. Achim Bergmann und Eva Mair-Holmes, die führenden Köpfe von Trikont, waren damals die Einzigen, die das Album veröffentlichen wollten. Wir rechneten mit großem Interesse der deutschen Presse, schließlich präsentierten wir tolle, hierzulande völlig unbekannte Musik aus einem Land, das ganz viel durchmachen musste – die Maidan-Proteste, die Okkupation der Krim, den Krieg im Donbass. Aber die Reaktionen hielten sich sehr in Grenzen. Viele Journalisten und Journalistinnen meinten, das Thema sei ihnen zu heiß. Sie waren sich nicht sicher, ob sie es hier nicht mit ukrainischem Nationalismus zu tun hätten. Heute bekomme ich täglich vier, fünf Anfragen, die deutschen Presse möchte mit mir über Borsh Division – Future Sound Of Ukraine, das Album von 2016 reden.

5. April

Im Zug nach Erfurt telefoniere ich mit einem deutschen DJ-Kollegen, der letztes Jahr in der Ukraine aufgelegt hat und nun anruft, um seine Fassungslosigkeit und sein Mitleid mit mir zu teilen. Er möchte sagen, wie ihm Kiew damals gefallen hat, wie enthusiastisch das Publikum war und wie schrecklich es gerade für „meine Leute dort“ sein muss. Ich bin müde, ich stimme zu, komme jedoch nicht dazu, ihm zu erzählen, dass der Krieg auch hier schon angekommen ist und meine deutschen Mitmenschen auf direkte Weise betrifft. Wir spüren ihn bereits auf vielen Ebenen. Auch mein Projekt „Alte Steine – Neue Töne“ in Erfurt ist betroffen. Eigentlich hätten wir diese Woche zu sechst daran arbeiten sollen, aber unser Kollege Lesik Omodada aus dem ukrainischen Ternopil kann leider nicht dabei sein.

Lesik ist Teil des psychedelischen Poptrios TikTu. Es war noch vor Corona, da schrieb er mich an und fragte, ob ich ihm einen Club in Berlin empfehlen könne, die Band plane eine Tour durch Europa und suche nach einer Auftrittsmöglichkeit in der deutschen Hauptstadt. Persönlich sind wir uns nie begegnet, aber ich kannte TikTu, mochte ihre Musik und habe sofort vermittelt. Mit Lesik blieb ich seitdem in Kontakt. Ich bekam mit, wie er als Toningenieur und Musikproduzent tätig wurde und mit einigen der besten ukrainischen Acts arbeitete, unter anderem mit der ESC-Gewinnerin Jamala, aber auch mit Brat, Love’n’Joy und Zapaska. 2021 mischte und masterte er das Album Foxtroty, das ich mit Serhij Zhadan einspielte. Ich war sehr zufrieden mit dem Ergebnis und lud Lesik, als wir uns bei der Livepremiere in Kiew endlich trafen, ein, auch bei meinem neuen Projekt mitzumachen.

Jedoch wird er am 7. April nicht die Bühne des Erfurter Zughafens mit uns teilen können. Stattdessen hat er eine Videobotschaft geschickt, die wir am Konzerttag auf die Leinwand projizieren werden. Darin zeigt er sein Studio, in dem er auch an unseren Tracks arbeitet, und seinen Keller, wo er hinmuss, wenn die heulenden Sirenen vor dem Luftangriff warnen. Bis vor Kurzem war Ternopil von russischen Raketen verschont geblieben, aber vor ein paar Tagen wurde nun auch dort bombardiert.

„Wir haben noch das Internet und eine Handyverbindung hier, aber jeder Zweite von uns hat aufgehört, mit Verwandten und Freunden aus Russland zu kommunizieren. Das liegt daran, dass sie uns nicht glauben – stattdessen vertrauen sie der Propaganda, die die Ukraine als Nation leugnet und ihre sofortige und vollständige Zerstörung anstrebt. Viele Menschen in Russland glauben den ukrainischen, aber auch den Weltmedien nicht, dass ihr Land angreift. So sieht es aus. Ukrainer melden sich freiwillig, versorgen, empfangen, ernähren und retten sich gegenseitig – mit dem einzigen Ziel, zu überleben. Und das bedeutet, diesen Krieg zu gewinnen. Denn zu verlieren wäre unser Tod.“

Zusammen mit seinen Kollegen und Kolleginnen hat Lesik gerade eine wohltätige Stiftung namens Musicians Defend Ukraine gegründet mit einem Spendenaufruf für die ukrainischen Musiker und Musikerinnen, die in den letzten Wochen keine Musik machen konnten und ihre Städte verteidigen mussten. Und ich weiß jetzt, wohin ich das nächste Mal spende.

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Eine Besprechung von Yuriy Gurzhys aktuellem Buch Richard Wagner & die Klezmerband findet sich in den Buchrezensionen.

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