Von Polkatoffel  bis Polkaholix

Nicht nur zweite Reihe: Andy Wieczorek

18. September 2024

Lesezeit: 4 Minute(n)

In folker #4.23 wurden Musikschaffende vorgestellt, die in Bands den Erfolg mitgarantieren und den Gesamtsound mitbestimmen, aber vielfach wenig Beachtung finden. Auch Andreas „Andy“ Wieczorek ist einer davon, obwohl er in seiner Laufbahn mitunter die Rolle des Frontmanns übernahm. Der gebürtige Berliner gehörte bereits in den Anfangsjahren zur DDR-Folkszene und entwickelte sich danach zum gefragten und in Musikerkreisen beliebten Saxofonisten in ­Formationen wie Die Seilschaft oder Polkaholix.
Text: Reinhard „Pfeffi“ Ständer

Schon früh erhielt Andy Wieczorek eine fundierte Ausbildung an den Berliner Musikschulen Prenzlauer Berg und Friedrichshain in den Bereichen Fagott, Posaune und Klarinette. Auf dem Tenor-, Alt- und Sopransaxofon ist er Autodidakt. Ganz nebenbei fand er über eine Mitschülerin zum Singeklub Folk 77, mit dem er an der von den Folkländern organisierten ersten Folkwerkstatt im Grafikkeller Leipzig teilnahm. Schnell erlernte Wieczorek weitere Instrumente: Tin Whistle, Hackbrett, Dudelsack, Gitarre, Mandoline, Banjo, Ukulele, Bass.

Mit Dudelsackbauer Andreas Rogge und Michael „Wacki“ Waterstradt gründete er die Gruppe Spielmann. Bei einem Folkfestival im ungarischen Szeged 1978 wollten die drei eine Gelegenheit zur Flucht in den Westen nutzen, was misslang. Wieczorek wurde zu 21 Monaten Haft verurteilt, von denen er 14 im Gefängnis verbrachte.

Gruppe Spielmann, am Banjo Andy Wieczorek

Foto: privat

„Von den Musikern aus Kuba, Griechenland und anderen Ländern habe ich viel gelernt.“

Scheinbar unbeeindruckt davon gründete Andy Wieczorek danach die Gruppe Polkatoffel, die mit deutscher und irischer Folklore die Berliner Szene bereicherte. Eines seiner Vorbilder wurde der Berliner Dudelsackspieler Bernd Eichler von der Gruppe Jack & Genossen, später Windbeutel, von dem Wieczorek eine Menge lernen konnte.

Eher zufällig bei einer Session entstand 1980 die Band JAMS, deren Name sich aus den Anfangsbuchstaben der Vornamen von Jo Meyer, Andy Wieczorek und Michael Zimmermann sowie des Wortes „Session“ zusammensetzte. JAMS entwickelten sich mit deutscher, besonders mecklenburgischer Folkore und Einflüssen von Weltmusik und Jazz zu einer der einflussreichsten DDR- und später gesamtdeutschen Folkbands.

Nebenbei betätigte sich Wieczorek als umtriebiger Organisator des Folkfestes Friedrichswalde bei Berlin, welches nur eine einzige Auflage erlebte und danach wegen möglicher Anreise „subversiver Elemente“ von der Staatsmacht verboten wurde. Doch der Multiinstrumentalist ließ sich nie entmutigen. So zog er mit Sackpfeife beim Umzug des sorbischen Dudelsackfestivals durch die Straßen von Schleife in der Lausitz. Beim alljährlichen Festival des politischen Liedes in Berlin sah man ihn – mit gefälschtem Mitarbeiterausweis – oft nachts im Festival-Songklub des Hauses der jungen Talente als gefragten Sessionmusiker. „Von den Musikern aus Kuba, Griechenland und anderen Ländern habe ich viel gelernt“, sagt er. Dass das Festival eigentlich eine geförderte FDJ-Propagandaveranstaltung war, störte ihn nicht. Hier traf man Kollegen und Kolleginnen aus aller Welt und aus der DDR-Folkszene. Das war für ihn wichtig.

Die Achtziger waren für Andy Wieczorek auch Jahre des Ausprobierens. Er spielte bei Handarbeit Swingblues à la Django Reinhardt, bei Freedolin Jazz, bei den Petty Cats Rock ’n’ Roll der Fünfziger. Es folgten Rock- und Popbands wie Tutti Paletti, die Matthias Lauschus Band und Ines Paulke. Zwischenzeitlich arbeitete er mit dem Bluesbarden Stefan Diestelmann, der Rockband NO 55 und dem Caledonia Chuckle Orchestra mit Musik der 1920er-Jahre zusammen.

Die wohl wichtigste Station seiner Laufbahn kam nach der Wende. Ein Kollege rief ihn 1992 an, dass der Liedrockpoet Gerhard Gundermann Mitglieder für seine Band Gundermann & Seilschaft sucht, vorerst nur für einige Konzerte. Aber Gundi und Andy konnten gut miteinander – er war genau der Richtige für die Umsetzung von Gundermanns Liedern in folkrockigem Stil. Die Band brachte mehrere großartige Alben heraus, die noch heute als zeitlos geschätzt werden, und war an herausragenden Konzerten beteiligt, unter anderem als Vorgruppe von Bob Dylan und Joan Baez sowie teilweise gemeinsam mit Silly und JAMS. Mitten in diesen Höhenflug platzte 1998 die Nachricht von Gundermanns plötzlichem Tod, der das vorläufige Ende der Seilschaft markierte.

Vier Jahre später hatten Jo Meyer und Andy Wieczorek die Idee, eine intensivere Powervariante von JAMS auf die Bühne zu bringen. Man fand Gleichgesinnte, und so entstand Polkaholix mit einer Mischung aus Polkarhythmen, Rock und Weltmusik. Als Sänger stieß Michael Seidel dazu, früher bei Arbeiterfolk und dem Schauorchester Ungelenk. Als dieser beim Rudolstädter Festival 2003 ausfiel, übernahm Wieczorek notgedrungen die Rolle des Frontmanns. Polkaholix war und ist eine gefragte Liveband und feste Größe auf Festivals von Kaustinen in Finnland bis nach Portugal. Es wurden mehrere Alben produziert, zuletzt erschien im Mai 2024 Selfies aus Absurdistan.

2013 zog ihn die Liebe ins norwegische Ålesund, wo er seitdem zeitweise lebt – nicht einfach, sein Privatleben mit den musikalischen Jobs in Einklang zu bringen. Zumal Wieczorek zwischenzeitlich auch Produktionen an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt hatte, sogar als Schauspieler. Im Stück Grenzwerte spielte er dabei sich selbst, als es um seine Verhaftung an der ungarischen Grenze ging. Außerdem gab es die Zusammenarbeit mit einst DDR-bekannten Musikschaffenden wie Thomas Putensen, Angelika Weiz oder Arnold Fritzsch. Weiterhin ist Andy Wieczorek als Musikschullehrer im Fach Saxofon in Berlin tätig und seit 2017 fester Bestandteil einer Dinnershow in Chemnitz, später in Dresden.

Die Seilschaft, Andy Wieczorek 3. v. l.

Foto: Tina Hut

Seit 2010 gibt es auch Die Seilschaft wieder, nachdem bereits 2008 ein kurzer Auftritt anlässlich des zehnten Todestages Gundermanns in der Berliner Columbiahalle stattgefunden hatte. Mit dem Leipziger Liedermacher Christian Haase konnte ein Sänger gewonnen werden, der Gundi glaubhaft interpretiert und starke eigene Songs beisteuert. Das neueste Album heißt Samurai 30/7, erschien im März 2024 und ist eine Hommage an das vor dreißig Jahren produzierte Gundermann-Album Der 7te Samurai. Alle Lieder wurden neu eingespielt.

Andy Wieczorek ist mit vollem Terminkalender auch weiterhin an mehreren Projekten beteiligt, war gerade mit JAMS wieder in Rudolstadt zu Gast und bleibt als großartiger Musiker gefragt.

dieseilschaft.de
polkakolix.de

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Aufmacherbild:

Foto: Michael Pohl

Aktuelle Alben:

  • Die Seilschaft, Samurai 30/7 (hTMV, 2024)
  • Polkaholix, Selfies aus Absurdistan
    (Monopol Records, 2024)

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