Der Heilige Gral des Folkrevivals

Siebzig Jahre Anthology Of American Folk Music

22. August 2022

Lesezeit: 9 Minute(n)

Im Jahr 2019 besuchte ich in Chicago ein Konzert des jungen, talentierten Americana-Musikers Trapper Schoepp. Im Gespräch im Anschluss erzählte er mir, dass er sich beim Songwriting immer wieder von Quellen wie der Anthology Of American Folk Music inspirieren lässt. „Daraus kann man am meisten lernen, mehr als bei einem Songwritingworkshop“, so sein Credo. Was macht diese uralte Sammlung von Folksongs heute noch so faszinierend? Zum siebzigsten Geburtstages ihrer Veröffentlichung wollen wir uns mit Geschichte und Einfluss dieser Songsammlung beschäftigen, die insbesondere während des Folkrevivals für Künstler wie Bob Dylan und Joan Baez eine enorme Bedeutung hatte.
Text: Thomas Waldherr; Aufmacher: Trapper Schoepp_Foto: Mitch Keller

Wie aus einer Sammlung obskurer, alter Platten die Anthology wurde

Man kann die Wirkung der Anthology nicht ohne ihre Vorgeschichte verstehen. Hatte die linke Folkszene um Woody Guthrie und Pete Seeger in den Zeiten von New Deal und Roosevelt-Administration in den Dreißiger- und Vierzigerjahren durchaus einen gewissen kulturellen Einfluss, so war sie in den Zeiten des Kalten Krieges und der McCarthy-Ausschüsse starken Repressionen ausgesetzt. Sie „überwinterte“ in den Fünfzigern in einem Nischendasein. Doch genau zu dieser Zeit erschien am 9. August 1952 die Anthology Of American Folk Music.

Ihr Kurator war Harry Smith. Der aber war weder politischer Folklorist noch Musikwissenschaftler, sondern Filmemacher, Künstler und Bohemian, der 78er-Schallplatten aus den 1920er- und 1930er-Jahren sammelte. Auf Bitten von Moses Asch, der Teil der linken Folkszene war, stellte er aus seinem Fundus Material zusammen, das auf sechs thematisch in drei Doppel-LPs („Ballads“, „Social Music“ und „Songs“) zusammengefassten Langspielplatten gepresst und von Asch bei Folkways Records veröffentlicht wurde.

Hatten Folkloristen diese Musik bis dahin nach sozialen oder geografischen Gesichtspunkten geordnet und gleichsam vermerkt, ob es sich hier um weiße oder schwarze Künstler beziehungsweise Künstlerinnen handelt, war das für Harry Smith weniger wichtig. Er wollte ein integratives Panorama früher Folk-, Country- und Bluesmusik zusammenstellen. Die Inhalte der Songs fasste er in seinen Liner Notes quasi als kurze Nachrichtenschlagzeilen zusammen und verstärkte damit die Wirkung, die diese Songs erzielten. Und er machte die Rezeption für eine neue, junge Generation spannend.

Die Musik der Anthology

Die auf der Anthology versammelten Musiker heißen Dick Justice, Charlie Poole, Blind Lemon Jefferson, Clarence Ashley oder Uncle Dave Macon – alles zum Zeitpunkt der Veröffentlichung Anfang der Fünfziger vergessene Namen. Am bekanntesten war noch die Carter Family, die auch während der Great Depression und später in den Fünfzigerjahren als Musikgruppe aktiv blieb. Die meisten anderen harrten der Wiederentdeckung.

Es waren wenige Berufsmusiker und -musikerinnen dabei, dafür viele Semiprofessionelle und sogar ein paar, die man getrost als Freizeitmusizierende bezeichnen konnte. Sie waren einfache, arbeitende Menschen aus den Südstaaten. Als der Tonträgermarkt zusammenbrach, gingen sie einfach wieder an die Arbeit. Ihr Liedgut waren uralte Balladen, die sich in den entlegenen Ecken des Appalachengebirges seit der Zeit der angelsächsischen Einwanderung erhalten hatten. Andere Stücke entstanden in der afroamerikanischen Community im Mississippidelta. Wieder andere resultierten aus der typischen Genese vieler Folksongs: Alte und bekannte Lieder bekommen ein paar neue Strophen oder einen neuen Refrain, vielleicht wird auch die Melodie verändert, und schon ist ein neues Stück entstanden.

Die Spanne der Themen umfasste Kinderlieder und Mörderballaden ebenso wie Liebeslieder oder Katastrophenmoritaten. Für die teils sich auch in den 1920er-Jahren noch an der Grenze zur Zivilisation befindlichen, entlegenen Ecken der Südstaaten waren Volkslieder eine Art Nachrichtenmedien und Yellow Press zugleich. Daher die bunte Themenmischung, die erst mit dem Aufkommen von Radio, Wochenschau und massenhaft hergestellten kommerziellen Tonträgern langsam eingehegt wurde.

Das Folkrevival der urbanen Jugend der Küsten

Während diese Art von Folk, Blues und früher Countrymusik durch die Wirtschaftskrise der Dreißiger ihrer Massenwirkung beraubt wurde, erfolgte durch den New Deal eine Stärkung der progressiven Kräfte und eine Politisierung der Folkmusik. Wenn Woody Guthrie die aus dem Süden und mittleren Westen stammenden Arbeitsmigranten und -migrantinnen in Kalifornien gewerkschaftlich organisieren wollte, griff er auf Melodien bekannter Folksongs oder Kirchenlieder zurück.

Doch die Zeiten änderten sich. In der McCarthy-Ära kamen Folkmusiker wie Pete Seeger auf die schwarze Liste. 1952, in dem Jahr, in der die Anthology herauskam, löste sich seine Musikgruppe The Weavers auf. In Folge der Auftrittsverbote, die Veranstaltende in Schwierigkeiten brachte, wenn sie Kulturschaffende, die auf dieser Liste standen, verpflichteten, waren die politischen Künstler und Künstlerinnen darauf angewiesen, eher im Verborgenen zu wirken. Seeger spielte auf Sommercamps der Gewerkschaftsjugend oder der schwarzen Bürgerrechtsorganisationen, er spielte vor Studierenden und in den Clubs der linken Bohemeszene der großen (Uni-)Städte an den Küsten.

Pete Seeger, 1955.
Foto: Library of Congress, New York World-Telegram & Sun Collection

Joan Baez und Bob Dylan, Civil Rights March on Washington, 1963. Foto: owland Scherman, National Archives at College Park

Nachdem das heiße McCarthy-Fegefeuer vorbei und der namensgebende republikanische Senator entmachtet war, zeigte sich erst recht die geistige Leere der Fünfzigerjahre in den USA. Konsumismus und Konformismus überall, und Bing Crosby und Doris Day lieferten den Soundtrack dazu. Erst rebellierte der Rock ’n’ Roll als jugendliche Fusion der Musik der armen Weißen und Schwarzen aus dem Süden gegen die Leistungsgesellschaft der Erwachsenen. Dann fand die junge, kritische Generation der studentischen Sinnsuchenden an den Küsten ihre musikalische Ausdrucksform in der ursprünglichen Musik der schwarzen und weißen arbeitenden Menschen des ländlichen Südens. „Mit akustischen Elementen – allen voran Banjo und Gitarre, jedoch auch typischen Instrumenten der Appalachen wie Autoharp und Dulcimer … wurde Folk … zum Soundtrack sowohl eines neuen Lebensgefühls als auch zahlreicher Protestbewegungen …“, schreibt Katrin Horn in ihrem Aufsatz „Von Folklore zu Folk“ im Buch Stimme, Kultur, Identität aus dem Jahr 2015.

Das Folkrevival nahm seinen Lauf. Mit dabei als wichtige Quelle – die Anthology. Die jungen Folkies lernten über diese Musik ein ganz anderes Amerika kennen als das der normierten Konsumgesellschaft. Ein Amerika der Abgründe, Nöte, Katastrophen, aber auch ein Amerika der Mystik, Liebe, Träume und des anarchischen Humors, das ebenso faszinierend wie furchteinflößend war. Aber stets „authentisch“ aus Sicht der Folkies. „Die Anhänger des Folk Revivals suchten aber in erster Linie nach einer Alternative zur ‚leichten Unterhaltung‘, die die Pop-Szene bot, und nach Einblick in vergangene oder fremde Welten“, so der Musikjournalist Elijah Wald in seinem Buch Der Blues.

War Pete Seeger so etwas wie der Mentor der jungen Folkszene, so war die Anthology aufgrund der genannten Einblicke in gewisser Weise ihr Manifest. Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger stand sie im Mittelpunkt des Bewusstseins der Mitglieder dieses Milieus. „[Die] Anthologie war unsere Bibel. […] Wir alle kannten jedes Wort jedes Songs darauf, einschließlich derjenigen, die wir hassten“, brachte es Dave van Ronk, Weggefährte Bob Dylans in dessen frühen Jahren, laut Website von Smithsonian Folkways Recordings später auf den Punkt.

Dylan wurde zum „Star“ des Folkrevivals, und auch als er sich später der Rockmusik zuwandte, blieb er weiterhin mit der Tradition der amerikanischen Folkmusik verbunden.

Mit akustischen Elementen – allen voran Banjo und Gitarre, jedoch auch typischen Instrumenten der Appalachen wie Autoharp und Dulcimer … wurde Folk … zum Soundtrack sowohl eines neuen Lebensgefühls als auch zahlreicher Protestbewegungen …

Wie Greil Marcus den Geist der Anthology in Bob Dylans Basement Tapes fand

45 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen wurde die Anthology Of American Folk Music als 3-CD-Box neu veröffentlicht. Unter dem Titel „The Old, Weird America“ steuerte der Autor und Musikjournalist Greil Marcus die Liner Notes dazu bei. Zeitgleich erschien sein Buch Invisible Republic – Bob Dylan’s Basement Tapes. Hier stellte er erstmals die Verbindungslinien von Dylans Basement Tapes zu den Songs der Anthology heraus.

Von Frühjahr bis Herbst 1967 nahmen Bob Dylan und The Band in einem Keller in Woodstock eine ganze Reihe von Songs auf, die sich laut Marcus von ihren Themen, Bezügen sowie ihrer Haltung her eindeutig in die Tradition der Anthology stellen ließen. Der Journalist zitierte in seinem Buch den britischen Musiker Elvis Costello, der über die Basement Tapes sagte: „Ich denke, er wollte Songs schreiben, die so klingen, als hätte er sie erst vor Kurzem unter einem Stein hervorgezogen. Die sich anhören wie echte Folksongs – denn, wenn man der Folktradition auf den Grund geht, dann stößt man auf Lieder, die genauso dunkel und tief sind wie diese.“

Greil_Marcus_Ministerio de Cultura de la Nación Argentina, Wikimedia CC BY-SA 2.0

„[Die] Anthologie war unsere Bibel. […] Wir alle kannten jedes Wort jedes Songs darauf, einschließlich derjenigen, die wir hassten.“

Zur heutigen Bedeutung und Einordnung der Anthology

Bis heute berufen sich Musikerinnen und Musiker auf Harry Smiths Sammlung. Wie etwa der eingangs erwähnte Trapper Schoepp. Oder das amerikanische Country-Old-Time-Duo Jon Hogan und Maria Moss, die sogar unter dem Namen „Hogan & Moss and The Old Weird America“ auf Tour gehen und Alben aufnehmen. Mit Genehmigung von Greil Marcus.

„Die Musik in der Anthology bleibt als Quelle für Roots, Blues, Country und Folk von entscheidender Bedeutung, unabhängig davon, ob nachfolgende Generationen von Künstlern die aktuelle Harry-Smith-Sammlung unbedingt als einflussreich ansehen oder nicht. Oder sogar davon wissen“, erklärt Jon Hogan.

Dass Hogan Recht hat, beweisen junge Folkmusiker wie Richard Limbert. „Die Anthology of American Folk Music von Harry Smith war immer im Hintergrund meines musikalischen Lebens, ohne dass ich es wusste. ‚See That My Grave Is Kept Clean‘ und ‚Stackerlee‘ waren mir bekannt, aber eben durch Bob Dylan und Dave van Ronk. Wirklich aktiv angehört habe ich mir die Anthology erst viel, viel später. Auf meiner Forschungsreise in die USA für meine Bachelorarbeit wurde ich 2016 von Elijah Wald in Boston noch dafür gescholten, die Anthology nicht zu kennen“, erklärt der beim Lippmann+Rau-Musikarchiv tätige Musikwissenschaftler.

Oder Brian Kenneth, aufgewachsen in Florida und Virginia und inzwischen in Deutschland beheimatet: „Die Anthology of American Folk Music hat mich beeinflusst, ob ich es wollte oder nicht. Auch wenn ich sie lange gar nicht kannte. Denn ihr Erbe ist allgegenwärtig. Und nun liegt es an meiner Generation, die Folksubstanz darin lebendig weiterzutragen.“

Und wer sie kennt, den lässt die Sammlung nicht unberührt, wie Wolf Schubert-K., deutsches Americana-Urgestein aus dem Rhein-Main-Gebiet. „Am meisten begleiten dürfte mich wohl die Carter Family, deren Songsammlung ein eigenes Universum darstellt. Sie faszinieren mich heute noch.“ Oder den Ravensburger Singer/Songwriter Michael Moravek: „Die Anthology hat insoweit Bedeutung für mich, als dass ich den Weg zurückgegangen bin. Es ist wichtig und respektvoll, die musikhistorischen Zusammenhänge als Grundlage seiner Arbeit als Songwriter zu kennen.“

Richard Limbert. Foto: fela.film

Moss & Hogan. Foto: Promo

Brian Kenneth. Foto: El Rolé

Neue Blickwinkel

Über die letzten sieben Jahrzehnte hat sich aber auch die Rezeption der Sammlung verändert. Als 2020 inmitten des Höhepunkts der #BlackLivesMatter-Proteste ein Album mit den B-Seiten der 78er-Schellacks erschien, die Harry Smith für die Anthology ausgewählt hatte (also den Rückseitensongs, die es nicht in die Sammlung geschafft hatten), wurden drei Stücke wegen rassistischer Stereotypen im Text vom Album genommen und an deren Stelle jeweils fünf Sekunden der Stille gelassen.

Man kann davon ausgehen, dass unter einigen der aus dem Süden stammenden weißen Musiker der Anthology auch rassistische Ressentiments verbreitet waren. Dazu Maria Moss: „Natürlich gibt es alte Texte, die wir einfach nicht so singen, wie sie ursprünglich aufgenommen wurden. Ich sage mir, dass wir das Lied und die Kunst von denen trennen können, die sie geschaffen haben und schreckliche Ansichten offenbarten. Aber als Weiße das Lied eines rassistischen Weißen singen, ist das wirklich möglich? Wir spielen immer noch Uncle Dave Macon, mit veränderten Texten und nicht in seiner schlechtesten Form, aber wir spielen ihn weniger als früher.“

Unvermindert aktuell

Trotz mancher Neubewertung und veränderter Blickwinkel, Harry Smith’s Anthology Of American Folk Music bleibt auch siebzig Jahre nach ihrem Erscheinen als ungeschminktes Stück amerikanischer Sozial- und Kulturgeschichte ein unerlässliches Kompendium für zeitgenössischen Folk und Americana. Denn man muss die Wurzeln dieser Musik kennen, gerade wenn man sie als musikalische Ausdrucksform für die Beschäftigung mit der heutigen Welt betrachtet. Einer Welt, die ja gerade dabei ist in vielerlei Hinsicht wieder an längst vergangene Zeiten anzuknüpfen und hinter zivilisatorische Standards zurückzufallen. So gesehen ist beispielsweise das heutige Amerika auf eine ganz eigene Weise unheimlich und gefährlich. Und auch deswegen bleibt die Musik der Anthology unvermindert aktuell.

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Videolinks:

Links:

Literatur:

  • Greil Marcus, Invisible Republic – Bob Dylan’s Basement Tapes (Henry Holt: New York, 1997)
  • Martin Pfleiderer, Tilo Hähnel, Katrin Horn, Christian Bielefeldt (Hg.), Stimme, Kultur, Identität –  Vokaler Ausdruck in der populären Musik der USA, 1900-1960 (Transcript Verlag: Bielefeld, 2015)
  • Elijah Wald, Der Blues – Eine kleine Einführung (Reclam: Stuttgart, 2013)
  • Elijah Wald, Dylan Goes Electric! Newport, Seeger, Dylan and the Night That Split the Sixties (Dey Street Books: New York, 2015)

Albumtipps:

  • Diverse, Anthology of American Folk Music (3-CD-Box; Smithsonian Folkways, 1997)
  • Diverse, The Harry Smith Connection – A Live Tribute To The Anthology Of American Folk Music (Smithsonian Folkways, 1998)
  • Diverse, The Harry Smith B-Sides (4-CD-Box; Dust-to-Digital, 2020)

Aufmacher Foto:

Trapper Schoepp. Foto: Mitch Keller

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