Auch nach 1.700 Jahren hat die jüdische Kultur in Deutschland eine lebendige Zukunft. Denn zunehmend entdecken junge nicht jüdische Künstlerinnen und Künstler ihren musikalischen Reichtum. Aktuelles Beispiel ist die Lübecker Klezmerband Vagabund. Ihre leidenschaftliche Herangehensweise führt die Tradition in die Gegenwart und beeindruckt sogar den König des Klezmer.
Text: Erik Prochnow
Eine größere Auszeichnung gibt es wohl nicht. Der Altmeister der jiddischen Musik persönlich kündigte sie an. „Zi shpiln Klezmer zo sheyn“, präsentierte Giora Feidman das Ensemble Vagabund seinem Publikum im Lübecker Dom. Dem gemeinsamen Konzert im Januar 2020 vorangegangen war ein Workshop mit der achtköpfigen Formation. Er habe sie dort eingesammelt und einfach mitgebracht.
„Die Musik spricht durch ihn, und wir konnten von ihm lernen, unseren individuellen Ausdruck zu formen“, blickt Lina Gronemeyer auf den wohl prägendsten Moment der noch jungen Bandgeschichte zurück. Für die 24-jährige Klarinettistin war die Begegnung mit Feidman aber noch aus einem anderen Grund besonders. Bereits mit fünf Jahren hatte sie eine Kassette mit den Aufnahmen des wohl bekanntesten zeitgenössischen Klezmermusikers gehört. Feidmans gefühlvolles Spiel auf der Klarinette pflanzte in ihr den Wunsch, das Instrument und die Musikrichtung zu erlernen. Vor drei Jahren initiierte die Studentin schließlich an der Musikhochschule Lübeck unter ihren Mitstudierenden das Ensemble Vagabund.
Es ist derzeit eine der aufregendsten Entdeckungen der deutschen Weltmusik. Mit ganz eigenen Interpretationen traditioneller Stücke sowie Eigenkompositionen trägt die Band nicht nur dazu bei, dass jüdische Kultur in Deutschland nicht in Vergessenheit gerät. Sie demonstriert auch eindrucksvoll, dass jiddische Musik in Zeiten zunehmenden Antisemitismus eine Zukunft hat. „Wir wollten der Tradition großen Respekt zollen und gleichzeitig einen eigenen Fußabdruck hinterlassen“, sagt Bassklarinettistin Sophie Kockler, die die meisten Stücke arrangiert und auch das Titellied des Debütalbums Wandering Steps komponierte.
Wörtlich bedeutet das aus dem Hebräischen stammende klezmer „Gefäß des Liedes“. Ursprünglich bezeichnete der Begriff die Musikerinnen und Musiker der aschkenasischen Juden, die vor allem in Ost- und Mitteleuropa beheimatet waren. Diese hatten seit dem fünfzehnten Jahrhundert einen nichtliturgischen jiddischen Musikstil entwickelt, der sich an religiösen Bräuchen orientierte und vor allem auf Hochzeiten und Festen als Begleitung gespielt wurde. Erst seit der von den USA ausgehenden Wiederbelebung der Tradition in den Siebzigern wird auch die Stilrichtung selbst als Klezmer bezeichnet.
„Für mich ist dieser schön traurige Klang sehr lebensbejahend.“
Foto: Paula Winterberg
„Diese Musik ist ein schneller Wechsel zwischen Ekstase und Melancholie“, sagt die ebenfalls 24-jährige Kockler. Und Gronemeyer fügt hinzu: „Für mich ist dieser schön traurige Klang sehr lebensbejahend.“ Beide stimmen sofort darin überein, dass Klezmer sie zuallererst auf sich selbst zurückführt. „Man spielt sich immer selbst und erzählt seine Geschichte und Emotionen.“ In keinem anderen Stil könne man so mit der Klarinette jauchzen und singen wie im Klezmer. Was die beiden jungen Musikerinnen ebenfalls in den Bann zieht, ist die große Bedeutung der Improvisation. Sie haben viele Aufnahmen jiddischer Musik angehört, aber selten Noten zu den Stücken gefunden. „Immer wieder werden die Lieder anders gespielt“, ist Kockler über die Herausforderung begeistert. Aber damit sei für ihr Ensemble auch eine große Verantwortung verbunden. „Wir haben viel diskutiert, was wir als Neulinge ohne jüdischen Glauben überhaupt zum Klezmer beitragen können“, beschreibt Gronemeyer die anfänglichen Zweifel. Schließlich ist die jüdische Musik eng mit religiösen Ritualen verbunden. „Wir haben uns deshalb sehr intensiv mit der Tradition auseinandergesetzt und gehen sehr respektvoll mit ihr um“, erläutert sie weiter. Konkret bedeutet dies: Vagabund spielen keine religiösen Formen wie Mantras und sie folgen den üblichen Ritualen. Von der jüdischen Gemeinde in Lübeck erhielten sie dafür großes Lob.
Dennoch tragen die acht Studierenden der Klassik oder Musikpädagogik einiges zur Entwicklung von Klezmer in Deutschland bei. Zum einen vereint sie die Sorge über den wachsenden Antisemitismus. „Dagegen wollten wir die Stimme erheben“, erklärt Gronemeyer. Doch letztlich ist es die Musik selbst, die sie antreibt. Auch wenn alle schon in ihrer Jugend Klezmer gehört haben, kommen sie doch aus ganz unterschiedlichen Richtungen wie Barock, Jazz, Swing oder Pop. „Indem wir alle diese Elemente vereinen, wollen wir die große Bandbreite des Klezmer zeigen“, sagt Gronemeyer. Vorherrschend ist jedoch die Klassik. So scheint auf dem Album auch in den verschiedenen traditionellen Tänzen wie Freilachs, Bulgars oder Shers immer die Kammermusik durch. Ungewöhnlich dabei ist die Besetzung mit zwei Klarinetten. Zusammen mit den zwei Violinen, einer Viola, einem Akkordeon, Percussions und einem Kontrabass nehmen sie Hörerinnen und Hörer mit auf eine berührende Reise auf dem Rücken eines Pferdes, durch die Wüste, auf Hochzeiten, in eine laue Sommernacht nach Südfrankreich oder zu dem Großvater, der seinem Enkel die Geschichte seines Lebens erzählt. Ganz getreu dem Namen ihrer Band. „Vagabunden sind Menschen, die umherziehen, um Geschichten zu sammeln“, sagt Gronemeyer.
Den eingeschlagenen musikalischen Weg haben sie vor allem ihrem Professor Bernd Ruf zu verdanken. Der Leiter des Lehrstuhls Popularmusik, Jazz und Weltmusik an der Musikhochschule Lübeck ist selbst seit vierzig Jahren leidenschaftlicher Klezmerklarinettist. Vagabund ist nach Yxalag bereits die zweite Klezmerformation, die der Dirigent und Tangoexperte aus der Hochschule in die öffentliche Konzertszene führte. Sein langjähriger Duopartner, der renommierte Bandoneonspieler Raúl Jaurena arbeitete zudem eng mit Giora Feidman zusammen. Hier schließt sich auch der Kreis zum Workshop des Ensembles mit dem „König des Klezmer“. „Für Feidman ist die Musik ein Spiel der Seele“, sagt Sophie Kockler. Und um diese zu berühren, versammeln sich Vagabund vor jedem Konzert in dem von ihnen kreierten Giora-Feidman-Kreis und lauschen gemeinsam der Stille vor dem Jauchzen der Klarinetten.
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