Edith Leerkes

Vom Musikus zur Musikantin

15. Januar 2024

Lesezeit: 8 Minute(n)

In der Öffentlichkeit tritt sie nur selten in Erscheinung. Aber ohne sie hätte der niederländische Liedermacher Herman van Veen sicherlich nicht seinen bis heute andauernden Erfolg. Edith Leerkes ist nicht nur eine Ausnahmemusikerin. Sie stärkt ihrem berühmten Bandpartner seit Jahrzehnten den Rücken und sorgt im Hintergrund für seinen unnachahmlichen musikalischen Klang. Der folker wollte wissen, wer diese Künstlerin eigentlich ist, und traf sie zum Interview in Hamburg.
Text: Erik Prochnow

Als sie den ersten Ton erklingen lässt, wird es plötzlich still im Saal. Versunken in die Musik und ihre Gitarre steht sie allein barfuß in der Mitte der Bühne, während sich ihre Komposition „Hermano“ mit immer größerer Intensität entfaltet. Die pulsierende Energie ihres filigranen Spiels erfüllt das Publikum und lässt es für einen Moment vergessen, dass es eigentlich ein Konzert von Herman van Veen besucht.

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Seit mehr als 25 Jahren ist Edith Leerkes die kongeniale Partnerin des niederländischen Singer/Songwriters und Geigers. Fast wie ein altes Ehepaar verstehen sich das 78-jährige musikalische Urgestein und die 64-jährige klassisch ausgebildete Gitarristin blind. Und ihre Rollen sind klar verteilt. „Herman ist der Kapitän, und ich bin der Steuermann“, sagt die Ausnahmemusikerin mit einem Lächeln auf den Lippen. Während van Veen der künstlerische Leiter ist, der singt, die tiefsinnigen Texte verfasst und den direkten Kontakt zum Publikum zelebriert, steht Leerkes eher im Hintergrund, wo sie sich um die Organisation kümmert, teilweise die Musik komponiert sowie arrangiert. Bestes Beispiel ist das aktuelle Album Mütter, das 2022 erschien und auf der van Veens Gesang nur von Leerkes einfühlsamem Spiel auf der Gitarre begleitet wird.

Edith Leerkes

Foto: Kim Scholten

Wer den harmonischen Einklang der beiden – meist unterstützt von der exzellenten Violinistin und Jazzsängerin Jannemien Cnossen und dem Bassisten Kees Dijkstra – live erlebt, kann kaum glauben, dass Leerkes lange zögerte, bis sie sich für die Zusammenarbeit mit van Veen entschied. „Ein Jahr habe ich gebraucht, nachdem Herman mich gefragt hatte, um Ja zu sagen, da ich nicht jemandes Adjutant sein wollte“, blickt die aus Enschede stammende Musikerin zurück. Doch als ihr klar wurde, dass van Veen wirklich an ihrem großen Talent und ihrer musikalischen Sichtweise interessiert war, stimmte sie zu. Seit 1998 gehen die beiden nun nicht nur fast ununterbrochen auf Tour und geben bis zu 140 Konzerte im Jahr, sie komponieren und produzieren auch fast alle zwei Jahre ein neues Album.

Für die gestandene Gitarristin war das ein großer Sprung. „Bis dahin habe ich Musik eigentlich nur mit dem Blick in die Vergangenheit gespielt, nämlich Stücke von Komponisten perfektioniert, die schon tot waren“, erläutert Leerkes. „Mir kam gar nicht in den Sinn, dass man Musik auch anders machen könnte, mit eigenen Kompositionen ohne Vorgaben. Herman hat mich angestachelt, Grenzen zu überschreiten, mich freizuspielen.“ Und das ist Leerkes unnachahmlich gelungen. Neben den Aufnahmen mit van Veen hat sie unter anderem inzwischen auch das meisterhafte Album Etude Feminine mit Solo-Gitarrenkompositionen sowie eine sowohl auf Niederländisch als Liedjes als auch auf Deutsch mit dem Titel Auf diese Art erschienene Produktion mit selbst geschriebenen Liedern herausgegeben. „War ich vorher eher ein Musikus, würde ich mich heute als Musikantin bezeichnen“, beschreibt Leerkes ihre Entwicklung.

Dabei genoss sie in der Zeit vor van Veen bereits einen großen Ruf in der klassischen Musikszene. Von 1987 an war sie Mitglied des international renommierten Amsterdam Guitar Trio. Während sie dort anfangs immer wieder als Ersatz für Olga Franssen einsprang, übernahm sie schließlich den Platz von Johan Dorrestein, als der das Gitarrenspiel an den Nagel hängte. Der dritte exzellente Gitarrist im Bund war Helenus de Rijke. Das Trio erregte vor allem Aufsehen – gefeiertes Lob genauso wie herbe Kritik – für seine ungewöhnlichen Arrangements von Stücken, die nicht für Gitarre komponiert worden waren. Dazu zählen etwa die Brandenburgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach, die Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi oder die Suiten von Isaac Albéniz und Claude Debussy. Auszüge des Repertoires des Trios sind aktuell auf der Best-of-Zusammenstellung Again zu hören, die 2018 als CD erschien. Mit Dorrestein blieb Leerkes auch nach seinem Ausstieg eng verbunden. Die beiden waren zwanzig Jahre ein Paar und haben zwei Kinder. Ihr Sohn Marnix Dorrestein ist selbst erfolgreicher Musiker und spielte in den vergangenen Jahren nicht nur mit van Veen und seiner Mutter, sondern produzierte auch einige ihrer Alben.

„Wir haben den gleichen musikalischen Herzschlag.“

Mit der Musik kam Leerkes durch ihre Mutter in Berührung. Ihr Leben lang träumte diese davon, durch die Welt zu ziehen und Musik zu machen, fand aber durch die Heirat mit Leerkes Vater, der eine chirurgische Ambulanz leitete, keine Möglichkeit dazu. So sang sie in einem Opernchor und hörte leidenschaftlich gerne Livemusik, vor allem Romaorchester wie das Tata Mirandos. „Als ich diese Musik mit acht Jahren zum ersten Mal hörte, war ich sofort verzaubert von dieser Energie und wollte das auch machen“, erinnert sich Leerkes. 1999 ging ihr Wunsch tatsächlich in Erfüllung, als sie mit Herman van Veen und dem Rosenberg Trio das atemberaubende Album Deine Küsse sind süßer aufnahm und alle zusammen anschließend eine gefeierte Tour spielten.

Zur Gitarre brachte sie schließlich ein Lehrer. „Ich war nicht nur in ihn verliebt, er spielte auch spanische Musik, die mich sofort verzauberte, und da wusste ich, dass ich das beruflich machen wollte“, sagt Leerkes. Ihre Eltern unterstützten sie darin, und so begann sie, das Instrument an der örtlichen Musikschule zu erlernen. Als ihr das jedoch irgendwann zu langweilig wurde, ging sie zum Selbststudium über und brachte sich selbst Akkorde bei. Geduld war dabei allerdings nicht unbedingt ihre Stärke. „Als ich den vierten Akkord zu ‚House Of The Rising Sun‘ nicht finden konnte, habe ich meine Gitarre vor Wut auf dem Boden zerschlagen“, kann sie es auch heute immer noch nicht wirklich fassen. Als sie von einem weiteren Lehrer erfuhr, dass man Gitarre auch studieren könne, nahm sie den Unterricht an der Musikschule wieder auf und lernte für das Konservatorium.

Mit sechzehn Jahren bestand sie schließlich die Aufnahmeprüfung an der renommierten Hochschule in Enschede und begann ihr Studium – und das, obwohl dem Ringfinger an ihrer linken Greifhand ein Stück fehlte, weil sie ihn sich in einer Tür eingeklemmt hatte. „Ich konnte daher nicht die vorgegebenen Fingersätze spielen, sondern musste meine eigenen entwickeln“, erklärt Leerkes ihr bis heute sehr individuelles Spiel.

Edith Leerkes und Herman van Veen

Foto: Kim Scholten

Am Konservatorium lernte sie bei Louis Ignatius Gall, einem ehemaligen Schüler des großen klassischen Gitarristen Andrés Segovia. Durch ein Stipendium konnte sie nach Abschluss ihres Studiums Ende der Siebzigerjahre zudem noch in die Lehre bei Ernesto Bitetti in Madrid gehen. Der spanische Gitarrist vermittelte ihr auch Konzerte in New York und die Teilnahme an einem Wettbewerb in Chile. Letzteres lehnte Leerkes jedoch aus Protest gegen das Regime von Diktator Augusto Pinochet ab. Zurück in Holland begann sie dann als Dozentin am Konservatorium in Enschede zu arbeiten. Sie gab gelegentlich eigene Konzerte, besuchte einen Meisterkurs beim klassischen Stargitarristen Manuel Barrueco und gewann mit ihrem Duopartner Ed Westerik den zweiten Preis beim Gitarrenfestival in Los Angeles, wo sie auch auf Johann Dorrestein und das Amsterdam Gitarrentrio traf.

„Wir erzählen Geschichten, bei denen die Sprache genauso wichtig ist wie die Musik.“

Ein Wendepunkt in ihrer musikalischen Laufbahn war dann die Einladung Herman van Veens 1992. Auf der 25-Jahr-Feier seiner Plattenfirma Polydor wollte dieser gerne mit dem Amsterdam Guitar Trio seine Version des Leonard-Cohen-Songs „Suzanne“ präsentieren. Von Anfang an lernten beide die Zusammenarbeit schätzen. „Uns verbindet viel, wir haben den gleichen musikalischen Herzschlag“, sagt Leerkes. „Unsere Eltern gehören der gleichen Generation an, die am Anfang des Krieges junge Erwachsene waren, wir sind beide klassisch ausgebildet und lieben die europäische Musik sowie die Schönheit des Klangs, und es ist uns wichtig, sprachlich dem Publikum etwas mitzuteilen.“ Die Arbeit an ihren Liedern ist daher auch nie fertig. „Es gibt immer etwas zu feilen, an einem Wort, einem Satz oder einem Akkord. Selbst über die richtige Stelle eines Kommas können wir lange diskutieren“, beschreibt die Gitarristin, die nicht viel übt, ihren Prozess des Komponierens. Auch die gemeinsamen Konzerte sind für sie immer ein spannendes Erlebnis. Nicht nur weil es ein Hin und Her zwischen Deutsch und Niederländisch sei. Die beiden improvisieren viel, gerade bei Stücken, bei denen van Veen nicht im Takt singt und sich frei bewegt. Und sie schätzt es, dass die Projekte mit dem Liedermacher so viel mehr sind als nur einfach auf der Bühne Noten zu spielen, sich zu verbeugen und Applaus zu empfangen. „Wir erzählen Geschichten, bei denen die Sprache genauso wichtig ist wie die Musik. Aber auch jede Geste zählt, die Art wie man spricht und was man anzieht“, sagt Leerkes.

Letztlich ist es diese kreative Freiheit und Vielfalt, weshalb die Gitarristin es überhaupt nicht bereut, die klassische Musikszene verlassen zu haben. Mit van Veen könne sie nun beides verbinden: die Perfektion der instrumentalen Musik und die Macht der Sprache, und zwar auf ganz neue Weise. Das zeigen etwa die beiden Albumprojekte Du bist die Ruh und Songs In The Distance. Bei ersterem hat Leerkes 1997 mit van Veen Lieder von Franz Schubert auf eine ihnen eigene Weise interpretiert. Um den Segen des berühmten Komponisten zu bekommen, sind die beiden sogar extra nach Wien gepilgert, um eine CD auf sein Grab zu legen. Bei dem zweiten Projekt aus dem Jahr 2011 handelt es sich um sehr berührende Vertonungen der großartigen Gedichte der Jüdin Selma Meerbaum-Eisinger, die 1944 mit nur achtzehn Jahren in einem Arbeitslager der Nazis starb.

Edith Leerkes und Marnix Dorrestein

Foto: Kim Scholten

Mit van Veen teilt Leerkes auch den Wunsch, sich sozial zu engagieren. „Das ist etwas, das ich von meinem Vater gelernt habe, der während seiner Zeit als Rentner noch Parlamentarier wurde und sich bis zu seinem Tod für die Senioren, eine verbesserte Pflege und Flüchtlinge stark gemacht hat“, erzählt Leerkes. Weil sie sich unbedingt für andere einsetzen wollte und nicht mehr Krankenschwester werden könne, hat sie vor vier Jahren sogar eine Niere gespendet. Mit van Veen hat sie im niederländischen Soest ein Kunstzentrum gegründet, in dessen Nähe sie heute auch lebt. „Dort veranstalten wir unter anderem Projekte für eritreische Flüchtlinge, um sie zu integrieren, sowie Theaterstücke für Kinder, Konzerte oder auch Diskussionsabende zu gesellschaftlichen Themen“, beschreibt sie Musikerin ihr Engagement. Darüber hinaus vermitteln sie jungen Künstlerinnen und Künstlern alle Themen rund um die Musik wie Management, Organisation, Technik, Design, Licht oder den Liveauftritt. „Das, was wir abends im Konzert erleben, ist nur der Gipfel unseres Berufs. Darunter liegt eine vielfältige Welt voller Arbeit, die man lieben muss, wenn man mit Freude Künstler sein will“, weiß Leerkes aus eigener Erfahrung. Während sich van Veen auch im Kunstzentrum um die künstlerischen Belange kümmert, fungiert Leerkes hier vor allem als Managerin im Hintergrund.

Aufhören mit der Musik sei für die vor Energie strotzende Künstlerin genauso wie für van Veen undenkbar. So plane sie neben den zahlreichen Projekten mit ihrem musikalischen Partner etwa eine Fortsetzung ihres Instrumentalalbums Etude Feminine. Sie kann sich zudem vorstellen, mehr Hauskonzerte zu spielen und am Konservatorium zu unterrichten, um Talente zu fördern und ihre umfangreichen Erfahrungen über die Kunst, eine Musikantin zu sein, weiterzugeben. Denn für ihr Leben sei das Musizieren wie das Salz für den Brei, zieht Leerkes Bilanz. „Es ist notwendig für den Geschmack und damit unverzichtbar für die tiefere Essenz.“

www.edithleerkes.nl

 

Auswahldiskografie:

Mütter (mit Herman van Veen; Harlekijn, 2022) Lullabies (The Grannies; Harlekijn, 2021) Again (The Amsterdam Guitar Trio; Harlekijn, 2018) Liedjes/Auf diese Art (Harlekijn, 2016) Songs In The Distance (mit Herman van Veen; Le Chant du Monde, 2011) Etude Feminine (Gruppo Music, 2007) Deine Küsse sind süßer (mit Herman van Veen & The Rosenberg Trio; Harlekijn, 1999) Du bist die Ruh’ – Herman van Veen Sings Schubert (mit Herman van Veen; Harlekijn Holland, 1997)

Videolinks:

Herman van Veen mit Edith Leerkes und Lieke Meijers singen „Mütter“ bei „Das!“ im NDR: www.youtube.com/watch?v=Swrg1dAXDGo Herman van Veen mit Edith Leerkes und Maria Pedano, „Voor Mijn Kleinzoon“ („Für meinen Enkel“): www.youtube.com/watch?v=5LgWYY9gFZo Amsterdams Guitar Trio 1988, mit Edith Leerkes (Mitte), spielen Werke des in Bangkok geborenen Komponisten Dnu Huntrakul: www.youtube.com/watch?v=XPZZcgXaDFM

 

Aufmacherfoto:

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