Für Lucas Santtana sind brasilianische Gitarrentradition, elektronische und stilistische Experimente kein Widerspruch. Er ist zudem einer der Musikschaffenden Brasiliens, von denen am ehesten kritische Kommentare zur Politik seines Landes zu hören sind. Mit seinem aktuellen Album O Paraiso appelliert er für nachhaltiges Leben und mehr Achtsamkeit mit der Umwelt.
Text: Hans-Jürgen Lenhart
Santtanas Alben haben die Música Popular Brasileira neu definiert. Mit seiner Mischung aus akustischen und elektronischen Klängen setzt er fort, was Tropicalisten wie sein Onkel, der experimentelle Tropicalist Tom Zé, angestoßen haben. Von diesen wurde er in den Neunzigerjahren entdeckt und begleitete Gilberto Gil und Caetano Veloso auf Europatourneen. Einflüsse der nächsten Musikergeneration wie von Chico Science, Cibelle oder Arto Lindsay verstärkten sein genreüberschreitendes Musikverständnis.
Lucas Santtana tobte sich zwischen Baile Funk, Rock, Funk und Dub aus, lieferte aber immer wieder auch dezent wirkende Gitarrenalben ab, in denen Noise- und Elektronikklänge eine neue Atmosphäre schafften. Dabei überraschte er ähnlich wie Veloso mit immer neuen Wendungen. Auf O Paraiso erklingen sanfte Melodien, getragene Bläserklänge und brasilianische Percussion. Manche Titel sind aber auch tanzbar. „Ich mache eine Musik, die auf brasilianischen Stilen basiert, aber mit anderen Musikkulturen korrespondiert. Die musikalischen Grundlagen sind doch für jeden Stil gleich: Harmonie, Rhythmus, Melodie, Instrumentierung, Lautstärke und so weiter. Ich habe meine Art, das alles zu organisieren. Nenn es, wie du willst. Durch sanfteres Singen kann ich allerdings mehr Widerstände bei ernsten Themen zerstreuen als durch Lautstärke.“
Lucas Santtana
Jérome Witz
Seine Musik ist aber nicht nur auf ihre Ästhetik zu reduzieren, denn in seinen Songs und Kommentaren setzt er sich immer wieder mit der sozialen Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung in seinem Heimatland auseinander. Während der Pandemie hat Santtana Bücher zu Umweltschutz und Philosophie gewälzt. Der Raubbau an der Natur entwickelte in Brasilien zuletzt ein nie gekanntes Ausmaß. Bei Santtana sind daher die Themen Nachhaltigkeit und ökologisches Handeln in der Musik angekommen. So singt er in „La Biosphère“ über die Torheit der internationalen Agrarkonzerne, die mit hochgezüchteten Hochleistungspflanzen die Natur beherrschen wollen. Santtana findet zwar, dass man als Musikschaffender nachhaltige Touren und Festivals genauso machen kann wie es bei nachhaltigem Tourismus funktioniert, aber „in Bezug auf Umweltauswirkungen ist das immer noch sehr gering. Doch warum muss immer die Arbeiterklasse, die Mittelschicht, die Rechnung der Milliardäre bezahlen? Ein einziger Flug verbraucht die Anstrengung eines Jahres eines Mitgliedes der Mittelklasse. Es ist nicht fair, dass sich nur ein Teil der Menschheit anstrengt. Die Milliardäre und Unternehmen sind die größten Verantwortlichen im Hinblick auf die großen Umweltauswirkungen. Große Banken haben die Verwüstung des Amazonas in den letzten vier Jahren mitfinanziert. Der einzig wirksame Weg, sie zu stoppen, sind strengere Gesetze. Zu erwarten, dass ein paar Aktivisten für uns die Umweltprobleme lösen, hat etwas davon, wie im Krieg junge Menschen an die Frontlinie zu schicken.“
Eine zentrale Aussage des Albums O Paraiso ist, dass man das Paradies nicht im Jenseits suchen muss, denn unser Planet ist bereits das Paradies. Wir müssen nur aufhören, es zu zerstören. Doch der Menschheit läuft die Zeit davon. Der Protest gegen die Untätigkeit der Politik wird deswegen immer radikaler. „Jedes Mal, wenn wir uns in einer Umgebung von tiefer natürlicher Schönheit befinden, sagen wir alle: Was für ein Paradies! Dies muss sich im Bewusstsein materialisieren“, meint Santtana. „Aber ich habe Angst, dass Umweltaktivisten von den Medien als Terroristen betrachtet werden. Wir Kulturschaffende und Journalisten haben die Verpflichtung, an ihrer Seite zu stehen und dieses Bewusstsein auch in die Bevölkerung zu tragen.“
Die aber, die in ökologischer Hinsicht mahnen und warnen, müssen sich angesichts halbherziger Umweltkongresse zunehmend missachtet fühlen. Auch ein Grund, warum Santtana auf O Paraiso Paul McCartneys „The Fool On The Hill“ gecovert hat. „Das ist einer meiner Lieblings-Beatles-Songs. Ich habe kürzlich erfahren, dass Paul dieses Lied gemacht hat, als er an einen Guru dachte. Ich glaube, dass Pauls Vision zu diesem Thema dieselbe ist wie meine. Er singt über jemanden, der vor etwas Offensichtlichem warnt, was viele Leute immer noch nicht zu verstehen scheinen. Und diese Leute verspotten ihn immer noch dafür.“
Lucas Santtana
Foto: Jérome Witz
In ähnlichem Sinne kritisiert Santtana im Stück „Vamos Ficar Na Terra“ die Pläne Elon Musks zu einer Marsmission und sagt, dass man lieber zuerst in die Lebensqualität auf der Erde investieren sollte. „Jeder Teil unseres Körpers besteht aus chemischen Elementen, die aus dem Weltraum kamen. Ich bin dafür, den Weltraum zu studieren, Raumsonden zu schicken, aber im Hinblick darauf, was diese Milliardäre vorhaben, bin ich absolut dagegen. Ich denke, sie sollten weniger wie kleine Jungen herumspielen, sondern ihr Vermögen vielmehr einsetzen, um die Erde als Paradies zu erhalten. Mit all dem Geld, das sie besitzen, an der richtigen Stelle, gäbe es keine Armut mehr auf diesem Planeten.“
Immer wieder hat Santtana in Kommentaren oder auf poetische Weise die Politik des Bolsonaro-Regimes kritisiert. Die Wiederwahl Lulas zum Präsidenten Brasiliens sieht er als bedeutungsvoll für die ganze Welt. „Nicht nur wegen der Klimafrage, sondern weil Brasilien die größten Ökosysteme hat und der zweitgrößte Lebensmittelproduzent der Welt ist. Kohlenstoff ist zu einer neuen Verhandlungswährung geworden. Brasilien ist also ein zentrales Land für das Überleben des Planeten. Unser Kongress ist aber immer noch sehr konservativ. Aber Druck und internationales Interesse werden meiner Meinung nach helfen.“
O Paraiso fordert ganz in diesem Sinne dazu auf, unseren Planeten als Wunder und nicht als Wirtschaftsmodell zu begreifen.
Aktuelles Album:
O Paraíso (No Format!)
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