Òran – Cân – Sonenn – Amhrán

Liedtraditionen in keltischen Sprachen

23. Dezember 2024

Lesezeit: 11 Minute(n)

Die keltischen Sprachen werden heute nur noch in Randgebieten im Westen Europas gesprochen. Von ihrer einstmals großen Verbreitung ist heute nur noch eine kleine Sprachgruppe übriggeblieben. Einige gelten heute als ausgestorben, andere werden wiederbelebt, wie zum Beispiel das Kornische in Cornwall oder das Manx auf der Insel Man. Wir unternehmen eine Reise zu den noch gesprochenen Sprachen und ihren Liedern.

Text: Michael Klevenhaus

Wir beginnen in Schottland. Schottisch-Gälisch hat sich aus dem Irischen entwickelt. Irische Einwanderer brachten ihre Sprache mit nach Schottland. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein war Irisch die gemeinsame Hochsprache beider Länder. Die Sprache breitete sich aus, wurde die Sprache des schottischen Hofes bis durch dynastisch-politische Verbindungen mit England und Kirchenreformen das Gälische immer mehr ins Hintertreffen geriet. Aufgrund systematischer Zurückdrängung der Sprache durch staatliche und kirchliche Institutionen fiel die Anzahl der Muttersprachler weiter. Die Vertreibungen der Bevölkerung des Hochlandes und der Inseln (Clearances) waren der größte Schlag gegen das Gälische, das schließlich ab 1872 auch vom Lehrplan der Schulen verschwand. Ein rein englischsprachiges Schottland war das politische Ziel. Und so fiel die Anzahl der Muttersprachler auf heute noch rund 60.000.

„Die schottisch-gälische Liedkultur ist heute populärer als die Sprache selbst.“

Nach Jahrhunderten der Unterdrückung entstand in den Siebzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts jedoch eine Bewegung, die den Anspruch hatte, das Gälische in die Zukunft zu retten. Man forderte Schulbildung auf Gälisch, gälische Früherziehung und gälische Radiosendungen. Leuchttürme dieser Entwicklung sind die Gründung des gälischen Colleges Sabhal Mòr Ostaig – heute Teil der University of the Highlands and Islands –, Schulen, die auf Gälisch unterrichten, BBC Radio nan Gàidheal und der gälische Fernsehkanal BBC Alba.

Rona Lightfoot

Foto: Promo

 

Seit 2005 genießt Gälisch auch gesetzlich gesicherten Status. Trotzdem fiel die Zahl derer, die die Sprache aktiv sprechen, weiter. Der Zensus von 2021 scheint zu zeigen, dass diese Entwicklung gestoppt werden konnte. Immer mehr Menschen lernen Gälisch, bringen ihre Kinder in gälische Schulen und ziehen sie auf Gälisch auf. Die Anzahl der Gälischsprecher im Land selbst steht in krassem Widerspruch zu den Sympathien für die Sprache bei denjenigen, die sie zwar nicht sprechen, aber gerne hören. So ist die gälische Liedkultur heute populärer als die Sprache selbst.

Allan MacDonald

Foto: Promo

 

Traditionell unterscheidet man in der gälischen Musik zwischen Ceòl Mòr – der „großen“ – und Ceòl Beag, der „kleinen Musik“. Erstere umfasst die traditionellen Balladen und die klassische Dudelsackmusik, während Letztere sich grob auf die Unterhaltungsmusik bezieht. Eine besondere Liedform der schottischen Tradition sind die Walklieder, die man zum Walken des Stoffes rhythmisch gesungen hat. Jeweils eine Textzeile und eine Zeile von Vokalharmonien wechseln einander ab, das Ganze kann sehr lange dauern und handelt oft von Nachrichten und Klatsch aus dem Dorf, nicht selten aber auch von historischen Ereignissen. Diese Lieder beherrschen heute nur noch wenige. Hören kann man sie im Original von Rona Lightfoot, die sie von ihrer Mutter in South Uist gelernt hat.

Margaret Stewart

Foto: Euphoria Photography

Tänze werden oft von Port à Beul begleitet, schnell gesungenen Tanzreimen, die meistens nur die Melodie transportieren oder kleine, witzige Geschichten erzählen. Auf den Inseln und im Westen hat sich der traditionelle unbegleitete Gesang in alter Art, anns an t-seann nòs gehalten – Allan MacDonald, Margaret Stewart, Mary Smith und in der jüngeren Generation zum Beispiel Griogar Labhruidh sind nur einige derer, die diese Tradition bewahren. Daneben sprießen landesweit Chöre aus dem Boden, die gälisch singen mit Sprachlehrern, die auf korrekte Aussprache achten, und für viele Mitglieder eines Chores war und ist das Singen der Einstieg in das Lernen und Sprechen des Schottisch-Gälischen.

„Der Sean-Nós-Gesang ist die höchste Form der gälischen Liedkunst.“

Auf den jährlich stattfindenden Royal National Mòd (Am Mòd Nàiseanta Rìoghal) treten die Chöre, Liedersänger und Barden dann gegeneinander an, um die begehrten Medaillen und Pokale für den besten Vortrag zu gewinnen. Aber es werden auch neue Lieder geschrieben und gesungen: Marcas Mac an Tuairneir, Gillebride MacMillan, Màiri MacInnes oder Rachel Walker beweisen, dass neue Lieder den alten in nichts nachstehen und schnell beliebt werden.

Marcas Mac an Tuairneir

Foto: Heffloaf, Wikimedia CC BY-SA 4.0

Von der schottischen Westküste geht es nach Irland. Hier war das Gälische – wir nennen es der Einfachheit halber Irisch – lange Zeit die Sprache der gesamten Insel. Irisch war seit dem frühen Mittelalter Hoch- und Kanzleisprache neben Latein, es ist die älteste Literatursprache Europas. Alle Schichten der Bevölkerung sprachen Irisch, und es dauerte mehrere Jahrhunderte bis England nicht nur das Land endgültig besetzte, sondern auch nach und nach seine Sprache bestimmte. Die finale Katastrophe stellte die große Hungersnot in den 1840er-Jahren dar. Durch eine Klimaveränderung und damit zunehmend kühle und nasse Bedingungen kam es zur großen Kartoffelfäule, die wiederum zu mehreren Hungerkatastrophen und zu massenhaftem Tod oder Auswanderung führte. Mangelnde Versorgung der Hungernden durch die Behörden, ob nun aus Unfähigkeit oder aufgrund vorsätzlich unterlassener Hilfe, führten zu einer Entvölkerung großer Teile des Landes, was einen radikalen Rückgang der Anzahl der Sprecher zur Folge hatte.

Gillebride MacMillan

Foto: Anna Gomez

Der Freiheitsdrang der Iren und die Forderung nach Unabhängigkeit von Großbritannien war auch immer verbunden mit dem Festhalten an der indigenen Sprache, die infolgedessen zu einem Politikum wurde. Sympathisierte die überwiegend katholische Bevölkerung mit dem Irischen, so lehnte die eingewanderte protestantische Oberschicht sie vehement ab. Und das insbesondere im Norden der Insel, der von britischer Seite durch protestantische Schotten besiedelt worden war und deshalb an den herrschenden Verhältnissen festhielt. 1916 kommt es zum Osteraufstand in Irland, 1922 erhält der Süden der Insel den Status eines Freistaates, der Norden verbleibt, wie auch nach der Unabhängigkeit 1949 beim Vereinigten Königreich. In der Republik – Poblacht na hÉireann – wird Irisch offiziell zur ersten Staatsprache. Alle Institutionen sollen zweisprachig sein, alle offiziellen Schilder sind zweisprachig, die Sprache ist verpflichtend in der Schule zu lernen.

Rachel Walker

Foto: Paul Jennings

Tatsächlich benutzt sie allerdings kaum jemand. Selbst in den sogenannten Gaeltacht-Gebieten – Regionen, in denen die Mehrheit der Bevölkerung Irisch spricht – setzt sich Englisch mehr und mehr durch. Offiziell lernen heute 1,9 Millionen Iren Irisch als Zweitsprache, aber nur noch etwa 70.000 Muttersprachler verwenden Gaeilge in der täglichen Kommunikation. Natürlich gibt es irischsprachiges Radio (RTÉ Raidió na Gaeltachta) und Fernsehen (TG4), die irischsprachige Literatur ist oft von hervorragender Qualität. Irisch ist offizielle Amtssprache der EU und hat als einzige keltische Sprache diesen Status. Trotz der geringen Sprecherzahl genießt die Sprache ein hohes Prestige als Symbol des Landes und ist Teil der nationalen Identität Irlands.

Iarla Ó Lionáird

Foto: Xyzdude, Wikimedia CC BY-SA 3.0

In Nordirland ist Irisch ein großes Politikum geblieben. Wer die Sprache verwendet, muss in bestimmten Gegenden auch heute noch damit rechnen, beleidigt oder angegriffen zu werden. Zu sehr ist sie das Symbol einer Wiedervereinigung der sechs Grafschaften Nordirlands mit der Republik im Süden. Irisch war lange auch die „Geheimsprache“ inhaftierter IRA-Mitglieder während der sogenannten Troubles. Da das Wachpersonal oft nur Englisch sprach, konnten sich die Häftlinge in ihrer Sprache verständigen. Der Autor dieser Zeilen wird nie vergessen, wie er 1996 in einem Irischsprachkurs in Donegal in eine Klasse geriet, in dem auch fünf sehr muskulöse, tätowierte und kahlköpfige Männer saßen, die unmissverständlich klarmachten, dass sie nur Irisch sprächen. Nachdem geklärt war, dass man nicht aus England kam, wurde die eine oder andere Anekdote aus dem Maze-Gefängnis in Belfast zum Besten gegeben, in dem überwiegend IRA-Kämpfer inhaftiert gewesen waren. Irisch habe ich in dieser Woche übrigens sehr schnell gelernt.

Clannad

Foto: Anton Corbijn

Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg war irische Musik in Mitteleuropa so gut wie unbekannt, gälisch gesungene Lieder nur eingeweihten Spezialisten in der Wissenschaft ein Begriff. Das änderte sich in den Sechzigern mit der Irlandwelle, die unter anderem durch Heinrich Bölls Irisches Tagebuch ausgelöst wurde. Allerdings handelte es sich bei dem, was man zu hören bekam, meistens um Instrumentalmusik, wenn gesungen wurde, dann auf Englisch. In Irland selbst hatte mit der politischen Selbstständigkeit eine Rückbesinnung auf die gälische Sprache und damit auch auf Lieder in dieser Sprache begonnen. Der Komponist, Sänger und Arrangeur Seán Ó Riada stand mit am Anfang dieser Rückbesinnung. Er führte traditionelle Instrumente wie die fast ausgestorbene Bodhrán wieder in die Musik ein, komponierte und sang auf Irisch. Mit seinem Ensemble Ceoltoírí Chualann setzte er Standards sowohl für die Instrumentalmusik als auch für gälisch gesungene Lieder. Seine irische Messe ist heute noch in Gaeltacht-Gebieten zu hören, und seine Version von „Mná Na hÉireann“ gehört wohl zum Schönsten, was man auf Irisch hören kann. Clannad brachten unbegleitete gälische Lieder auf die Bühnen der Siebziger, Iarla Ó Lionáirds Version von „Caoineadh An dTrí Mhuire“ oder Lasairfhíona Ní Chonaolas „Caisleán Gearr“ tragen diese Tradition weiter.

Lasairfhíona Ní Chonaola

Foto: Promo

Diese Gesangsform war in den Orten der Westküste immer fester Bestandteil der gälischen Kultur. Es sind wohl die Eigenschaften dieses Sean-Nós-Gesangs, des Gesangs auf die alte Art, die Faszination ausüben: Jemand stellt sich hin und beginnt ein Lied zu singen, unbegleitet und sehr stark ornamentiert. Es versteht sich von selbst, dass dann alle anderen schweigen und wertschätzend zuhören – dem Sean-Nós-Gesang wird bis heute in Irland und auch Schottland großer Respekt gezollt, es ist die höchste Form der gälischen Liedkunst und gleichzeitig fester Bestandteil der Alltagskultur. In Reinform hören kann man das unter anderem von Lillis Ó Laoire. Neben anderen traditionellen Liedformen wie dem Port a Béal, einem rhythmischen Sprechgesang ähnlich dem oben erwähnten schottischen Port à Beul, existieren natürlich auch Tanzlieder, Trinklieder, Liebeslieder – kurz Musik für alle Lebenslagen, die die Grundlage auch für die moderne Pop- und Rockmusik bilden, die sich immer wieder auf die Traditionen bezieht.

Bemerkung am Rande: Wer zu einem Fest oder einer Tanzveranstaltung geht, besucht auf Irisch ein feis. Auch auf Schottisch-Gälisch sagt man fèis, allerdings wird das „e“ länger gesprochen. Geht man in Schottland zu einem feis mit kurzem Vokal, nimmt man hingegen an einer Orgie teil. Nur so als Hinweis.

Lillis Ó Laoire

Foto: Promo

In Wales ist scheinbar alles anders: Das Walische, auch Kymrisch genannt, wird von geschätzt rund 800.000 Menschen (ein Viertel der Bevölkerung) gesprochen. Kymrisch ist zwar ebenfalls eine keltische Sprache, kann aber von Gälischsprechern nicht verstanden werden. In Wales sieht und hört man es praktisch überall, und die Leute freuen sich über jeden, der die Sprache lernt und sprechen möchte. Seit 2000 wird Kymrisch an jeder Schule unterrichtet, in 20 Prozent von ihnen ist es ausschließliche Unterrichtssprache in allen Fächern. Auch für die junge Generation ist Walisisch cool genug, um weiterzubestehen. Dafür sorgt die Jugendorganisation Urrd Gobaith Cymru. Seit Wales ein eigenes Regionalparlament, den Senedd Cymru hat, wird viel für die Förderung des Walisischen von offizieller Seite unternommen. Seit 2010 ist es neben Englisch Amtssprache und hat damit einen offiziellen Status, der auch im Alltag gelebt wird.

9Bach

Foto: Dewi Glyn Jones

Die Politik setzt sich aktiv für die Sprache ein, und für die Bevölkerung ist die Sprache das kulturelle Band, welches sie alle verbindet, und trägt wesentlich zur Identitätsstiftung bei. Einer der Gründe, warum Kymrisch bis heute so weit verbreitet ist, liegt wohl darin, dass es hier nie aktive Vertreibungen und massenhafte Auswanderung der Mittel- und Oberschicht gegeben hat. So behielt die Sprache bis heute ihr gesellschaftliches Prestige für alle Schichten.

„In Wales behielt die Sprache bis heute ihr gesellschaftliches Prestige für alle Schichten.“

Musikalisch ist Wales für seine Chöre bekannt, aber auch walisische Balladen und Liebeslieder sind auf Konzerten oder in Pubs zu hören. Plygain ist ein Harmoniegesang, der in Kirchen auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Aber es werden auch neue Lieder auf Walisisch komponiert. Eines hat es bis in die Fußballstadien geschafft und ist zu einer Art Nationalhymne geworden: „Yma O Hyd“ („Immer noch hier“), komponiert 1983 von Dafydd Iwan, ein Lied, in dem das Selbstverständnis und die walisische Identität stark zum Ausdruck kommen. Die lässt sich geballt auch auf dem jährlich stattfindenden Eisteddfod erleben, einem Festival für Lied und Lyrik, dessen Anfänge bis ins Mittelalter zurückreichen.

Walisische Musik hat es nie geschafft, bei uns auch nur annähernd so populär zu werden wie die irische oder schottische. Eigentlich schade, da lassen sich noch manche musikalischen Schätze heben (wie zum Beispiel Cerys Hafana – siehe folker #2.24  –, 9Bach oder das Frauenquartett Pedair, das auf Seite 32 in dieser Ausgabe vorgestellt wird).

Von Großbritannien geht es nun nach „Kleinbritannien“, in die Bretagne. Durch den Einwanderungsdruck der Angelsachsen wichen Bevölkerungsgruppen aus dem heutigen Cornwall in die Region der heutigen Bretagne auf dem Festland aus und nahmen ihre Sprache und Kultur mit. Und so gibt es heute nicht nur eine inselkeltische Sprache, Brezhoneg, die auf dem europäischen Festland gesprochen wird, sondern all die Sagen und Mythen aus Britannien auch auf dem Kontinent. Merlins Grab gibt es auch mehrfach: einmal im Wald von Brocéliande bei Paimpont sowie wahlweise in Cornwall, Wales und sogar in Schottland.

„Das Bretonische ist eine inselkeltische Sprache, die auf dem europäischen Festland gesprochen wird.“

Gesprochen wird Bretonisch heute in den drei Departements Finistère (Penn ar Bed), Morbihan (Mor-bihan) und Côtes-d’Armor (Aodoù-an-Arvor). Sprachen nach dem Zweiten Weltkrieg noch geschätzt über eine Million Menschen Bretonisch, so ist diese Zahl bis heute drastisch gesunken. Bretonisch hatte es als Schriftsprache immer schwer, erst in den 1930er-Jahren gab es Bestrebungen, eine einheitliche Rechtschreibung zu etablieren. Das stellte sich aber als schwierig heraus, da die großen Dialekte enorme Unterschiede aufweisen, die sich sehr schlecht zu einem System zusammenfassen lassen. Muttersprachler empfinden das in den Schulen gelehrte Bretonisch als künstlich und verstehen es teilweise nicht. Verschärft wird das Ganze noch durch den Umstand, dass viele Lerner nie die Sprachkompetenz von Muttersprachlern erreichen; die Sprache verarmt.

Dass Bretonisch in solch einem Stadium des Niedergangs ist, hat auch damit zu tun, dass es immer als Sprache der einfachen Leute galt und über wenig Prestige verfügte. Als sich in den Vierzigerjahren dann auch noch die Kämpfer für den Erhalt des Bretonischen mit der deutschen Besatzung einließen und von dieser unterstützt wurden, war der Ruf der Sprache nach dem Krieg nachhaltig ruiniert. Der französiche Staat versuchte (und versucht teilweise bis heute), Französisch als alleinige Staatssprache zu bevorzugen. Trotzdem gibt es auf regionaler Ebene politische Bestrebungen, das Bretonische zu fördern. Dafür gibt es seit 1999 das Ofis publik ar Brezhoneg, und 2004 hat auch die Regionalregierung die Förderung des Brezhoneg beschlossen, was immer das heißen mag. Nach wie vor sind zum Beispiel die von dem privaten Verein Diwan geführten bretonischen Schulen chronisch unterfinanziert, obwohl rund 4.000 Kinder in diesen Schulen ausschließlich auf Bretonisch unterrichtet werden.

„Am Rand Europas haben sich musikalische Traditionen erhalten, die in der Mitte des Kontinents verschüttet sind.“

Auch in der Bretagne wird natürlich gesungen. Nur dort zu hören ist der Kan ha Diskan, ein Wechselgesang, der grob übersetzt „Gesang und Gegengesang“ bedeutet. Die Hauptstimme singt eine Phrase, die Zweitstimme singt die letzten paar Zeilen mit, wiederholt sie allein bis zu denselben letzten Zeilen, wenn die Hauptstimme wieder einsteigt und übernimmt. Kan ha Diskan wird nicht instrumental begleitet, der Rhythmus entspricht denen der üblichen Volkstänze. Da die Sprache allerdings den Gesang bestimmt, variieren die Strophen von Zeile zu Zeile innerhalb des Tanzrhythmus’. Diese Lieder erzählen Geschichten aller Art und können schon einmal bis zu einer Viertelstunde dauern, da die Geschichte im Vordergrund steht und komplett geschildert wird. Es gibt aber natürlich auch Lieder, zu denen nicht getanzt wird. Bretonische Lieder lassen sich in Sonioù, Liebeslieder, Gwerzioù, Trauerlieder, und Balladen unterteilen. Gwerzioù erzählen auch die großen Mythen und Dramen der bretonischen Geschichte. Diese Themen ziehen sich durch die gesamte bretonische Musik.

Und was ist es jetzt, das viele Menschen außerhalb dieser Regionen an dieser Musik so fasziniert? Am Rand Europas haben sich musikalische Traditionen erhalten, die in der Mitte des Kontinents verschüttet sind. Traditionelle Musik auf Deutsch hatte und hat es bis heute schwer, hier dominieren Klassik und Pop, oder es wird schnell volkstümelnd. Da macht es einfach mehr Freude, sich mit den Traditionen der Nachbarn zu beschäftigen. Das geht so weit, dass mittlerweile oft Pipebands Blaskapellen in der Tradition ablösen oder instrumentale Folkmusik in Deutschland komponiert und dann nach Irland oder Schottland exportiert wird – zu erwähnen sei hier nur das Stück „Highland Cathedral“. Bei Liedern ist das schwerer, denn nur wenige Menschen sprechen eine keltische Sprache und können solche Lieder singen. Sie lösen aber etwas in uns aus, das sich nicht nur mit der Sehnsucht nach Hochland, Einsamkeit und Torffeuer erklären lässt. Oder mit geschicktem Marketing. Es ist sicherlich auch die Flucht in eine Welt, in der man nicht jeden Tag mit dem Alltag überfordert wird, einer Welt, die nicht jeden Tag mit der nächsten Katastrophennachricht um die Ecke kommt. Die uns für einen Moment innehalten und entspannen lässt. Und das hat natürlich auch etwas mit dem musikalischen Stil und der Stimmung zu tun, in denen diese Musik daherkommt. Die modalen Melodien erinnern oft an alte Musik und wirken auf seltsame Weise vertraut und doch fremd. Dazu kommen die ungewohnt klingenden Sprachen sowie Lieder in freier Phrasierung, die sich oft jedem Rhythmus verweigern. All das macht sie anders als die Musik hierzulande, und sie entführt uns damit weg von unseren alltäglichen Hörgewohnheiten. Es ist ein Hin und Her zwischen Stilen, ein Austausch zwischen den Kulturen, fremd, ungewöhnlich, anrührend. Und vor allem: bereichernd im Austausch. So ungefähr könnte es gewesen sein, als man im schottischen Hochland oder im Finistère zum ersten Mal Haydn oder Beethoven zu hören bekam.

Welch eine wunderbare Kraft, die Musik zu allen Zeiten immer haben wird.

Michael Klevenhaus

Foto: Promo

Zum Autor: Michael Klevenhaus ist Kultur- und Musikwissenschaftler, Sänger, Autor, Übersetzer, Sprachtrainer, Leiter des Deutschen Zentrums für gälische Sprache und Kultur in Bonn. Promotion an der Universität Koblenz in Musikwissenschaft mit „Beethovens schottische Melodien und ihre gälischen Ursprünge“. Ausgezeichnet mit dem Duais na Gàidhlig für Verdienste um die gälische Sprache und Kultur in Edinburgh 2013. Deutschlandkorrespondent für BBC Radio nan Gàidheal undBBC ALBA. Letzte Veröffentlichung: Schottische Hochland-Sagas aus dem Gälischen übersetzt (Kröner Verlag, 2024).

www.schottisch-gaelisch.de

www.michael-klevenhaus.eu

www.ludwig-mor.eu

Skulptur Seán Ó Riadas in Cúil Aodha

Foto: Dlindod, Wikimedia CC BY-SA 3.0

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