Mani Matter, Polo Hofer, Endo Anaconda. Die Wegbereiter des schweizerischen Dialektlieds, Mundartrocks und experimentellen Liedschaffens sind alle nicht mehr unter uns. Walter Lietha, Toni Vescoli, Tinu Heiniger, Dodo Hug, Linard Bardill und Patent Ochsner sind zumeist noch aktiv. Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus?
Text: Martin Steiner
Beginnen wir von vorn. Wir Schweizer lieben unser Schwyzertütsch, unsere Mundart. Schaffhauserinnen reden Schaffuuserdütsch, Basler Baseldytsch, Bernerinnen Berntüsch, und ich spreche Züritüütsch. Spricht ein Walliser so, wie er das zu Hause gewohnt ist, tönt das für uns Chinesisch. Der Überrest eines Apfels heißt dort je nach Bergtal Murmutz, Urssi, Huusi, Inndri, Bätzi oder Chääri. Wie einfach ist es doch im Kanton Zürich. Da heißt das Teil überall Bütschgi.
Welche Auswirkungen hat die Liebe für lokale Dialekte auf die Musik?
„Scho wieder Hudigäggeler“, raunte mein Vater, als er in den Sechzigern nach der Politsendung Rendez-vous am Mittagden öffentlich-rechtlichen Schweizer Sender Radio Beromünster ausschaltete. „Hudigäggeler“ war die despektierliche Bezeichnung für den „Ländler“ der alpenländischen Schweizer Volksmusik. „Mir Senne heis luschtig, / Mir Senne heis guet.“ – damit konnten weder mein Vater noch die Achtundsechziger etwas anfangen. Dann kam der Berner Mani Matter. Seine vom französischen Chanson beeinflussten Lieder waren bevorzugt in Moll gehalten, voller Poesie und feinem Humor und zeigten ein etwas anderes Bild des Landes. Bis heute interpretieren Tinu Heiniger und viele andere Matters Chansons. Mitte der Siebziger wurden die Berner Rumpelstilz als erste Mundartrocker populär und machten den Weg frei für Bands wie Span oder Patent Ochsner. Auch Letztere spielen neben Eigenkompositionen Matter-Lieder.
Ganz neue Wege beschritten 1989 Stiller Has mit Sänger Endo Anaconda und dem Percussionisten Balts Nill. Mit ihrer eigenwilligen Mischung aus Lied, Jazz, Rock und experimenteller Musik, verbunden mit der Bühnenpräsenz und den Texten ihres Sängers, gewannen sie 1995 den Salzburger Stier und 1996 den Deutschen Kleinkunstpreis. 2007 erhielten sie den Liederpreis für ihren Titel „Geischterbahn“.
Die erwähnten Musikschaffenden stammen – mit Ausnahme der Bündner Linard Bardill und Walter Lietha sowie des Zürchers Toni Vescoli – alle aus dem Kanton Bern. Über die Gründe der Berner Dominanz im Schweizer Mundartlied kann man nur mutmaßen. Umfragen bestätigen einstimmig, dass Berndeutsch als schönster Schweizer Dialekt wahrgenommen wird. Berndeutsch tönt weich und warm. Ganz anders die Schlusslichter der Wertungen: Thurgauisch mit seinen hellen „a“, „ä“ und „e“ ist für viele der unschönste Dialekt. Genauso unbeliebt ist Zürichdeutsch mit seinen kratzigen „ch“, dunklen „a“ und dem zischenden „sch“. Zu alledem gelten Zürcher und Zürcherinnen als überheblich. Nicht von ungefähr nennt sich eine der besten Rockbands des Landes Züri West. Die Formation aus Bern veräppelt mit ihrem Namen die Bewohnerinnen und Bewohner der größten Schweizer Stadt, die in der Bundeshauptstadt nur eine westliche Vorstadt ihrer Finanzmetropole sehen. Ins Bild passt auch der nostalgische Ohrwurm „Sanfranzisko“ des Liedermachers Dänu Brüggemann. Darin trifft ein Berner Kiffer einen Zürcher auf Speed. Die Stimmung in Bern wird als entspannt und freundlich empfunden, Zürich hingegen ist hektisch und dazu laut aktuellen Medienberichten Kokainhauptstadt der Schweiz.
Für Stiller Has liegt das Zentrum des Landes in Wallisellen. „Mir hätte doch is Wallis sölle u nid uf Walliselle“, schnaubt Endo Anaconda. Das nervt ihn, aber Wallisellen ist überall. Die Zürcher Agglomerationsgemeinde steht mit ihren gesichtslosen Neubauquartieren und Einfamilienhaussiedlungen für eine ländliche Schweiz, die schon lange keine mehr ist. An solchen Orten denken die meisten Leute wie in Wallisellen. Will heißen, ihre Schweizerfahnen flattern in Richtung der rechtspopulistischen Propaganda der SVP, der Schweizerischen Volkspartei. Mit seinem Tod am 1. Februar 2022 wurde Anaconda davon erlöst, Abend für Abend in Wallisellen aufzutreten.
Stefan Heimoz
Foto: Promo
Wie sieht es heute mit Talenten aus, die so bissig, kraftvoll und witzig den Schweizerinnen und Schweizern auf den Zahn fühlen? Zwar sagt Dodo Hug dazu: „Endo Anaconda war so charismatisch und einmalig, weil er über lange Jahre in Österreich lebte.“ Und hört man sich heute in Wallisellen und Bern um, stößt man erst einmal auf Leute wie Gölä und Trauffer, die mit Mainstreamrock, verpoppter Volksmusik und einem rechtskonservativen Weltbild schweizweit Erfolg mit ihren Mundartliedern haben. Und doch gibt es in Bern immer noch Musiker wie Stefan Heimoz, der mit ideenreichen, oft ausgefallenen Liedern die Tradition Mani Matters hochhält. Wieder anders die Kummerbuben: Erst vertonten sie alte berndeutsche Texte mit einer Mischung aus Rumpelrock, Balladen und Ska. Zuletzt standen sie neben einem achtzigköpfigen Sinfonieorchester mit dem Programm „Itz mau Apokalypse“ und Liedern über gefallene Helden auf der Bühne. Musikalisch ungleich sparsamer und ruhiger nimmt der Berner Trummer das Thema in Heldelieder (2014) auf. Seine Helden des Alltags geben sich bis zum bitteren Ende nicht geschlagen. Soeben ist Luubs Land, die neue Produktion von Trummer mit Nadja Stoller erschienen. Darin vertonen sie Gedichte von Maria Lauber im Berner Oberländer Dialekt von Frutigen (siehe Rezension auf Seite 25).
Mundartlieder sind leider meist noch eine Männerdomäne, wie auch im Fall des rockigen Graubündner Liedermachers Kaufmann oder der Berner Reggaeband Lauwarm. Neben Dodo Hug, die 2024 ihr fünfzigjähriges Bühnenjubiläum feiert, ist weit und breit keine Frau auszumachen. Wer etwas sagen will, wie Steff la Cheffe, rappt oder singt englisch. Die blühende Szene der innovativen Neuen Schweizer Volksmusik kommt meist ohne Vokalparts aus. Lastet der Ruf des Hudigäggelers zu schwer auf ihren Schultern? Wenn Frauen singen, wie auf Schnitter von eCHo oder Urbanus von Tritonus, ist das Liedmaterial meist viele Jahrhunderte alt. Landstreichmusik machen mit dem Album Asphalt eine gelungene Ausnahme. Ihre Berner Jodlerin und Sängerin Christine Lauterburg begibt sich mit ihren Landstreichern lustvoll ins Zürcher Nachtleben.
Dänu Brüggemann
Foto: Sieweke
Berner Liedermacher:
Dänu Brüggemann, Sanfranzisko (COD-Music, 1999)
Livealbum mit dem Bassisten Bänz Oester und dem Gitarristen Marc Rossier. Der Berner ist nicht nur einer der besten Liedermacher der Schweiz. Wie er seine Songs mit Stil und Ironie ansagt, macht ihm kaum einer so leicht nach.
www.daenubrueggemann.ch
Stefan Heimoz, Us dr Gofere (Narrenschiff, 2021)
Lieder in der Tradition Mani Matters. Sechzehn teils aberwitzige neue Lieder zum zwanzigjährigen Bühnenjubiläum.
www.stefanheimoz.ch
Tinu Heiniger, Heinigerabend (Eigenverlag, 2023)
Alter Mann mit neuen Liedern, darunter auch welche von Mani Matter, Rumpelstilz, Fabrizio de André und dreimal Bob Dylan.
www.tinu-heiniger.ch
Polo Hofer, Polo Hofer singt Bob Dylan (Sound Service, 2011)
Der Sänger von Rumpelstilz huldigt in einem Doppelalbum auf Berndeutsch seinem großen Vorbild
Kummerbuben, Liebi und anderi Verbräche (Chop Records, 2007)
Debütalbum der schrägen Band.
www.kummerbuben.com
Mani Matter, I han äs Zundhölzli azündt (Zytglogge, 1973)
www.manimatter.ch
Stiller Has, Live – Poulet Tour (Sound Service, 2004)
Endo Anaconda mit dem Percussionisten Balts Nill und Ex-Rumpelstilz Schifer Schafer an Gitarren und Banjo. Sänger und Band geben alles auf dieser Best-of.
www.stillerhas.ch
Trummer, Heldelieder (Eigenverlag, 2014)
Feinfühlige Porträts über Menschen, die kurz vor der Rente ihre Arbeit verlieren, den Flüchtling und seinen Traum von Europa oder die Prostituierte aus dem Osten, die sich ein ganz anderes Leben vorgestellt hat.
www.trummeronline.ch
Reggae aus Bern:
Büne Huber, Honigmelonemond (Universal, 2000)
Das Titelstück des Albums ist ein wunderschöner, ruhiger Reggae. Nein, ohne politischen Inhalt. Dafür fühlt man sich unweigerlich in der Karibik. Der Song war bis vor gut einem Jahr ein Radiohit.
www.buenehuber.ch
Lauwarm, Mauchaschte (Eigenverlag, 2021)
Lauwarm sind die Reggaeband, die ein Konzert abbrechen mussten, weil ein paar Leute im Publikum Probleme hatten mit dem Umstand, dass sie sich dem Rhythmus unterdrückter Jamaikaner verschrieben haben und ein Teil der Gruppe Rastalocken und afrikanische Kleider trägt (siehe auch folker #2.23, „Kulturelle Aneignung – Zwischen Verbot und Dialog“). Die Band spielt aber nicht nur Reggae, sie wechselt in ihren Stücken oft den Rhythmus. Ihr Sound tönt locker und Sänger Dominik Plumetazz will gegen Rassismus ansingen. Dazu passt nicht, dass sie einer Einladung des SVP-Nationalrats Roger Köppel zum Firmenfest der rechtspopulistischen Weltwoche Folge leisteten, deren Verleger und Chefredakteur Köppel ist. Dabei richtet sich etwa ihr Song „Höchi Tier“ genau gegen Leute wie Köppel.
www.lauwarm.net
Troubas Kater, Verdammte Novämber (Eigenverlag, 2015)
„Wie chöit dir nume“, eines der Lieder des Albums, handelt von denen, die Völker ermorden und Länder vergewaltigen und dazu noch sagen, sie seien die Guten. Der Takt des Liedes: Reggae. Bis vor Kurzem war Reggae für Bands aus Bern und der restlichen Schweiz alles andere als ein No-Go. Soll Reggae nun geächtet werden? Der Rhythmus passt jedenfalls ausgezeichnet zu einem warmen Sommerabend und einem Eis der Gelateria di Berna an den Ufern der Aare.
www.troubaskater.ch
Restliche Schweiz:
Linard Bardill, Han di gära wie du wirsch (Sound Service, 2005)
Wie Bürgin (siehe nächster Eintrag) greift der Liedermacher aus Graubünden die Diskrepanz zwischen der heilen und weniger heilen Heimat in „Weisch, was i an dier so mag“ und „Schwitzerboode“ auf, nur bissiger.
www.bardill.ch
Christoph Bürgin, Jäger und Sammler (Eigenverlag, 2021)
„Heimat“, ein Titel des Albums des Schaffhauser Musikers, hat zwei Seiten. Der frische Nebel kontrastiert mit dem Geruch nach Kuhstall und Gewehrfett.
www.christophbuergin.ch
Galgevögel, September (Phonag, 1996)
Auf diesem Album der Band aus Schaffhausen findet sich unter anderem der Folkrockhit „Anna Göldi“ über die 1782 hingerichtete, letzte „Hexe“ der Schweiz.
www.endlich-en-hit.ch
Kaufmann, König vu dr Nacht (Zytglogge, 2018)
Junger Liedermacher, ebenfalls aus Graubünden, rockig und intensiv.
www.kaufmannmusik.ch
Walter Lietha, Anthologien I-V (Narrenschiff, 2005-2012; Aufnahmen von 1974-2012)
Die Lieder des Graubündners faszinieren noch heute textlich wie musikalisch.
Neue Volksmusik/Folk:
Albin Brun Trio & Isa Wiss, LiedSchatten (Narrenschiff, 2018)
Neue Volksmusik von Albin Brun mit Schwyzerörgeli (diatonisches Akkordeon), Kontrabass, Kuhglocken, Saxofon, Shrutibox und der Stimme von Isa Wiss. Im Traditional „Es isch ke sölige Stamme“, einem Emmentaler Lied aus dem neunzehnten Jahrhundert, singt und jodelt sie wunderbar experimentell bis schön schräg.
www.albinbrun.ch
Echo, Schnitter (Narrenschiff, 2007)
Von Trad-Folk bis Folkrock. Passend zum Auftakt „I hole di O!“ von Endo Anaconda. Danach Instrumentals und traditionelle Lieder gesungen von Christine Lauterburg, Corin Curschellas und Walther Lietha.
Landstreichmusik, Asphalt (Narrenschiff, 2018)
www.landstreichmusik.ch
Silberen, Winter (Zytglogge, 2019)
Band des Hackbrettspielers Nayan Stalder mit der Sängerin Barbara Berger. Alte Lieder zwischen Experimental- und Kunstmusik.
www.facebook.com/silberen
Tritonus, Urbanus – Alte Volksmusik aus Schweizer Städten (Eigenverlag, 2015)
Lieder und Tänze aus dem sechzehnten Jahrhundert. Die Lieder zeigen, wie Dialekte sich im Laufe der Jahrhunderte wandeln.
www.tritonus.ch
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