Im November 2020 saß ich mitten im Lockdown zu Hause, und wie so oft in der gesellschaftlichen Generalpause kamen große Fragen zu mir. Die vielleicht größte davon: Was kann ich tun, um meine Fähigkeiten angesichts der Realität der Klimakrise so einzusetzen, dass sie nützen? Was habe ich an dieser Zeitenschwelle zu tun? Ist noch genug Zeit, schöne Lieder zu schreiben, oder sollte ich lieber einen Wald besetzen, Straßen blockieren? Ich klappte den Laptop auf und tippte in die Suchmaschine: „klima und musik“.
Text: Peggy Luck
Und dann passierte etwas Wunderbares. Ich fand einen Essay, der diese zwei losen Enden auf berührende Weise zusammenknotete. Er stammt von dem Komponisten, Autor und Stadtteilkantor Bernhard König, der mir das Wort „Postwachstumsmusik“ schenkte. Zutiefst bewegt vom Erleben einer Fridays-for-Future-Demo, begann König über die Rolle von Musik in der Klimakrise nachzudenken. Aus einem ganz anderen musikalischen Milieu stammend, kam er durch reines Nachdenken auf Ideen, die nah an Haltung und Stil des Folk heranreichen.
Was kann Musik in Zeiten der Klimakrise zum Positiven bewegen? Dieser Frage näherte sich König entlang dreier Säulen der Nachhaltigkeitsforschung: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. Spannend fand ich im Hinblick auf mein Umfeld vor allem den Abschnitt über „Suffizienz“ – in meiner Übersetzung ungefähr „Genügsamkeit“.
Musikwirtschaft in einer Wachstumsideologie ist darauf angewiesen, stetig zu expandieren. Dafür muss sie aus ihrem natürlichen Zustand – König nennt sie „nachhaltig flüchtig“ – in käufliche Produkte umgewandelt, auf Tonträger gepresst oder in energieintensive Streamingdienste eingespeist werden. Jenseits der Verwertungslogik ist Musik zutiefst grün hinter den Ohren: „In ihrer flüchtigsten Form, im gemeinsamen Singen oder Musizieren, ist sie unschlagbar umweltfreundlich: eine hundertprozentig emissionsfreie ‚Primärenergie‘.“
Der größte Teil der ausgestoßenen Emissionen geht auf das Konto der Publikumsmobilität. König will den Menschen keineswegs den Konzertbesuch oder die Streams verleiden. Er beschreibt jedoch punktgenau, welche Vorteile es hat, jene Energie zu hüten, die musizierende Gemeinschaften hervorbringt. „Der Zustand der ressourcenschonenden Flüchtigkeit ermöglicht andere Qualitäten“, schreibt er: „Regionales Empowerment. Kulturelle Selbstversorgung. Eine intensivierte Einladung zur musikalischen Partizipation. […] Es geht nicht darum, als einen weiteren Ausdruck von individueller Öko-Askese auch noch auf den Konzertbesuch im Nachbarort zu verzichten. Sondern darum, dass Musikkultur zu einer aktiven Triebkraft von Mobilitätsreduzierung und Regionalisierung werden kann, wenn es ihr gelingt, das Publikum anstatt zum Reisen zum dauerhaften Verweilen anzustiften.“
Alle Formen des sogenannten Amateurmusizierens laden dazu ein, sich selbst als musisches Wesen zu zeigen und einzubringen, anstatt ausschließlich zu konsumieren. König führt als Beispiele Chöre, Bläservereine und Kirchenmusik an. Mir scheint aber, dass es kein Genre gibt, das die Bildung lokaler Musikkulturen mehr herausfordert als der Folk beziehungsweise die Volksmusik als seine Basis.
Folk ist niederschwellig und integrativ. Folkies lieben Sessions. Auch in anderen Musikstilen finden Improvisation und Miteinander statt, jedoch erfordern sie häufiger eine bestimmte musikalische Ausbildung oder geteilte Vorlieben. Folkmusik bringt in mancher Hinsicht eine Einfachheit mit, die die Anschlussfähigkeit erhöht.
Folk ist generationsübergreifend. Volkslieder sind Volkslieder, weil sie über Generationsgrenzen hinaus bekannt sind und im Idealfall mündlich weitergegeben und -geformt werden. Das unsichtbare Originalitätsdogma der Popkultur lebt davon, dass jedes Jahrzehnt eigene Hits hervorbringt.
Folk kann regional sein. Wenn es darum geht, Menschen „anstatt zum Reisen zum dauerhaften Verweilen anzustiften“, ist Musik geeignet, die bereits durch Thematik (Sagen, Märchen aus der Region), Sprache (Mundartlieder) oder regional spezifische Instrumente in einer bestimmten Landschaft wurzelt.
Folk funktioniert stromlos. Sicherlich sind auch Heavy-Metal- und Electro-Jamsessions denkbar, jedoch ist der kleinste gemeinsame Nenner der Folkmusik das akustische Instrument. So wird gleichberechtigtes Musizieren im Kreis möglich, das funktioniert auf jeder stromlosen Hütte.
Ist Folk also die nachhaltige, regionale Biovariante von Musik? Die Hafermilch unter den Genres? Die Solarzelle im Zentrum des harmonischen Universums? Ist die Waldzither der Gemüsebratling des Instrumentengartens?
Das Potenzial von Folkmusik, Keimling lokaler Musikkultur zu sein, erlebe ich selbst. Vor Corona war ich vor allem Liedermacherin. Ich schrieb Lieder und fuhr durchs Land, um sie zu singen. In meinem Stadtteil kannte ich fast niemanden. Während des Lockdowns verbrachte ich viel Zeit in meiner Umgebung, wodurch ich nicht nur den Wald viel besser kennenlernte, sondern auch ein Nachbarschaftszentrum entdeckte. Es gab dort weder Instrument noch Musizierangebot – das ärgerte mich so lange, bis ich mich durchringen konnte, eine Gitarre hineinzustellen und dann sogar einen regelmäßigen offenen Liedertreff anzubieten. Stets rang mein Drang, mit meinen eigenen Liedern überregional bekannt zu werden, mit dem Wunsch, einer Gemeinschaft etwas zu geben. Mit dem Ort in Austausch zu treten, an dem ich lebe. Ich hatte nicht damit gerechnet, wie viel mir diese Gemeinschaft zurückgeben würde. Sie bringen mir Volkslieder bei (und Schlager!), bringen frische Tomaten mit und Klatsch aus dem Kiez, Balladen über Leipzig im 19. Jahrhundert, umgedichtete Rennsteiglieder, die danach vom Leipziger Auenwald handeln.
Nicht alles, was wir im Liedertreff miteinander singen, ist „authentisch“ traditionell. Der Ansatz allerdings ist folkloristisch, mündlich, kreisförmig und bestätigt Königs Fazit, dass „das beste und überzeugendste Argument für den Wandel … die Erlebnisqualität, Tiefe und Schönheit dieser musikalischen Begegnungen“ ist.
Postwachstumsmusik ist nicht unbedingt etwas Neues – sie kann davon inspiriert sein, was Musik lange war, bevor sie der Wachstumslogik unterworfen wurde: eine Art Magie im Kreis einer Gemeinschaft. Moving forward is moving backward in a different way. Bei der Suche nach der Musik eines neuen Wertesystems ist Folk(s)musik ein wichtiger Wegweiser, der in die Tiefe statt in die Breite zeigt.
Linktipp:
Link zum Artikel von Bernhard König: www.musik-und-klima.de/home/teil-der-loesung/14565
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