Angoulême – ville créative“ steht auf dem Street-Art-Gemälde an einer Mauer aus dem neunzehnten Jahrhundert. Es steht auch auf Schildern am Stadtmuseumseingang und im Comicmuseum. „Kreative Stadt“ ist das Label, das weltweit nur 42 „literarische Orte“ tragen und das die UNESCO der Vierzigtausend-Einwohner-Stadt am Fluss Charente 2019 verliehen hat. Angoulême hat gleich zwei berühmte Festivals, im Januar das internationale Comicfestival und im Juni das Musikfestival Musiques Métisses. Seit über 45 Jahren werden dort Stars gefeiert und Newcomer entdeckt. Métis bedeutet übersetzt „Mischling, Mestize, Halbblut“. Auf Französisch bezeichnet das Adjektiv Mischformen, ob in der Küche oder der Musik. Auf Deutsch ist der Begriff wohl am besten mit „Fusion“ zu übersetzen.
Text und Fotos: Martina Zimmermann
„Ich bin ein kultureller Mischling“, sagt Faada Freddy. Da passt es gut, dass er für einen der Höhepunkte des Festivals sorgt, als Senegalese, der Rap, Soul und Popmusik macht. „Wenn die Musik anfängt, fragt keiner, wer schwarz, weiß, Muslim, Christ oder Jude ist“, erklärt der Künstler. „Dann sind wir ein einziges Volk mit derselben Vibration.“ Seine A-cappella-Performance bezeichnet der Rasta mit dem coolen Hut als „Biomusik“, kommen doch nur Stimmen von fünf Sängerinnen und Sängern zum Einsatz, deren Körper auch als Bass, Percussion oder sogar als Trompete funktionieren. Das Konzert ist phänomenal. Faada Freddys Stimme verfügt über einen unglaublichen Umfang von tiefsten Tiefen bis in höchste Höhen. Mit der Seele des Soul und dem Geist des Gospel sowie einer gigantischen Lichtshow löst er beim Publikum vor der Hauptbühne Begeisterungsstürme aus. Wenn er Lionel Richie oder Marvin Gaye gospelt, tanzen alle mit; zu seiner Electro-Hip-Hop-Version von Manu Dibangos „Soul Makossa“ hüpfen alle in die Höhe. Am Schluss schickt Faada Freddy noch solidarische Gedanken nach Senegal, wo das Volk in diesen Tagen unter einer Krise leidet, die Demonstrationen und gewalttätige Auseinandersetzungen nach sich zieht. Der ehemalige Rapper (mit Daara J) sorgt sich aber nicht nur um die Jugend in seinem Heimatland. „Mit meiner Musik will ich zeigen, dass die Menschheit noch aufrecht ist angesichts von künstlicher Intelligenz und der Robotisierung der Gesellschaft.“
Faada Freddy
Auch Gérald Toto zeigt Gefühl und sorgt für Augenblicke von wohltuender Sanftheit. Als der aus der Karibik stammende Pariser im Trio auf der Bühne im „Kleinen Garten“ mit seidiger Stimme intimistische Texte von Liebe, Schicksalsschlägen und Freiheit präsentiert, sitzen die Leute friedlich im Gras und singen mit. Seine eklektische Musik erklärt der Sänger mit immer wieder „Lust auf ein erstes Mal“.
Die Sängerin des Sextetts Kolinga ist ein „Kind des Festivals“. Die Mutter Rébecca M’Boungous lernte dort vor über zwanzig Jahren kongolesische Musik kennen und lieben. Sie reiste nach Brazzaville und traf den späteren Vater der Sängerin. M’Boungou spielt auf ihrer Gitarre auch Rumbarhythmen, während der Trompeter der Band in einer afrikanischen Sprache rappt. Kolinga, das ist Musik aus Frankreich mit Wurzeln in einer intensiven Black Music.
Gérald Toto
Soba ist eine Band aus Burkina Faso und Frankreich. Zur Percussion des Schlagzeugers Emile Biayenda, einem Mitglied der Tambours de Brazza, vermischt die Formation die Countryklänge einer Mundharmonika mit einer Mandingo-Gitarre. Auch diese Musik ist mal tanzbar, dann wieder sanft und poetisch – Balsam für die Seele.
Die Entdeckung der Musiques-Métisses-Ausgabe 2023 heißt für das Publikum wie für die Presse EABS meets Jaubi. Die Jazzmusiker von EABS (Electro-Acoustic Beat Sessions) aus Polen treffen auf die Mischung aus nordindischer klassischer Musik und Jazz von Jaubi aus Pakistan. „Wir vergessen unsere Musik nicht, wir lieben unsere Kultur“, sagt Sarangispieler Zohaib Hassan Khan und zeigt auf seine polnischen Kollegen. „Aber diese Typen sind erstaunlich und spielen wirklich gut, ich versuche immer, von ihnen zu lernen.“ Der Geist Joe Zawinuls schwebt über der Bühne im Kleinen Garten, jeder Musiker ist am richtigen Platz, wenn Synthie, Sarangi und Tabla oder Trompete, Saxofon, Bassgitarre und Schlagzeug erklingen. „Es ist immer eine Herausforderung“, meint Marek „Latarnik“ Pędziwiatr. „Wir senden uns keine Dateien, wir treffen uns von Angesicht zu Angesicht.“ Der Bandkollege am Synthesizer fügt hinzu: „So kreieren wir Musik auf menschliche Art und Weise.“
Kolinga
„Musiques Métisses hat von Anfang an auch eine Geschichte mit Jazz“, erklärt der künstlerische Direktor des Festivals, Patrick Duval. Gegründet wurde es 1976 zunächst als Jazz en France vom heute 79 Jahre alten Christian Mousset. Dort spielten nicht nur französische Künstlerinnen und Künstler, sondern zum Beispiel auch die Deutschen Albert Mangelsdorff und Wolfgang Dauner oder der Südafrikaner Chris McGregor. Sehr schnell öffnete Mousset das Programm zudem für Musik aus aller Welt, vor allem holte er Bands aus der Karibik, Afrika und Brasilien nach Angoulême. „Das Festival hieß inzwischen ‚Jazz & Musiques Métisses‘“, erinnert sich der Initiator. „Irgendwann habe ich den Jazz weggelassen, weil das ja auch eine Mischlingsmusik ist.“
Viele spätere Stars der Weltmusik traten erstmals in Angoulême auf: Johnny Clegg, Salif Keita, Cesária Évora … Christian Mousset brachte auch vergessene Pioniere wie Wendo Kolosoy aus Kinshasa oder Anne-Marie Nzié aus Kamerun in Erinnerung und produzierte ihre Alben für sein Label Bleu. „Ich hatte vierzig wundervolle Jahre mit genialen Musikschaffenden und Tourneen in Amerika, Japan, Kanada, Europa“, sagt er. Inzwischen hat er das Ruder an Duval übergeben, der in Bordeaux einen Konzertsaal leitet.
„Anfang der Achtziger ging es um traditionelle Musik, die sich für andere Stile öffnete und sich weiterentwickelte“, analysiert Duval. „Das ist getan und muss heute nicht mehr gezeigt werden.“ Heute gehe es um eine Mischung aus Hip-Hop, Electro, Soul und aktuellen Tönen. „Das heutige Festival berührt alle Generationen.“
EABS meets Jaubi mit der Autorin
Es gibt auch ein Programm für Kinder und seit zwanzig Jahren zudem Lesungen und Workshops mit rund einem Dutzend Autoren und Autorinnen jeglicher Herkunft. Das Festival wird mit zwei Festangestellten und über achtzig freiwilligen Helfern im Rahmen eines Vereins gestemmt. Das Budget in Höhe von 600.000 Euro stammt aus dem Verkauf von Tickets, Getränken und Essen sowie aus Subventionen seitens des Kulturministeriums, des Departements und der Metropolregion. Musiques Métisses trägt zum positiven Image Angoulêmes als weltoffene Stadt bei und hat sie, gemeinsam mit dem Comicfestival, berühmt gemacht – das Comicmuseum steht übrigens auf dem Festivalgelände. Die Subventionen der Stadt für das internationale Comicfestival wurde 1989 vom damaligen neuen Bürgermeister um die Hälfte gestrichen, Musiques Métisses bekommt von der Stadt überhaupt nichts.
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