Der Buchtitel ist etwas irreführend und auch der Untertitel hilft nur bedingt weiter. Hier geht es weniger um „The Folk“, also das Volk, sondern ähnlich wie in Georgina Boyes Buch The Imagined Village um Mythologisierungen und Fälschungen in der englischen und teilweise auch der amerikanischen Volksliedforschung um die vorletzte Jahrhundertwende. Denn was die Herren Cecil Sharp, John Lomax und Kollegen damals als simple Volkslieder vorstellten, war ideologisch und weltanschaulich sorgfältig bearbeitet, immer entlang der Vorstellung: Die ländlichen Gegenden und ihre Bevölkerung sind ursprünglich, einfach (ganz wichtig!) und gut, die Stadt dagegen laut, dreckig und verdorben. All das galt natürlich genauso für die Lieder diesseits und jenseits des Atlantiks, Theorien mit teils faschistischen Tendenzen, um es milde zu formulieren. Das geht bis in die heutige Zeit, wo sich die ultrarechte, amerikanische Alt-Right-Bewegung unter anderem auf solch konstruierte kulturelle Gegensätze beruft. Das ist spannend und für ernsthaft an der Folkmusik interessierte Menschen schon fast eine Pflichtlektüre. Die Sache hat nur einen klitzekleinen Haken: Das Buch ist ein höchst wissenschaftliches, mit 44 Seiten Quellenangaben und 13 Seiten Bibliografie, und stellenweise von einer solchen Komplexität, dass manche Absätze trotz guter Englischkenntnisse mehrfach gelesen werden müssen. Schließlich ist der Autor Research Fellow der University of Cambridge. Das ist schade angesichts der Relevanz, die das Thema auch heute noch oder wieder hat, denn die rechte Vereinnahmung der Folkmusik ist leider nicht auf die USA beschränkt.
Mike Kamp
Ross Cole: The Folk – Music, Modernity, and the Political Imagination.
– Oakland, CA : Univ. of California Pr., 2021. – 258 S. : mit s/w-Fotos u. Abb.
ISBN 978-0-52038374-6 – 29,95 USD
Bezug: ucpress.edu
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