Lulo Reinhardt

„Musik ist die absolute Sprache“

7. September 2019

Lesezeit: 5 Minute(n)

„Hört euch nur Django an und dann versteht ihr, was Musik ist. Django hat immer eine Geschichte erzählt.“ Lulo Reinhardt ist auch ein wunderbarer Geschichtenerzähler. Das Aufnahmegerät ist noch nicht eingeschaltet, da geht es schon los. Bereits nach fünf Minuten befinden wir uns in der Wüste Rajasthans und nach gut drei Stunden beschließen wir eine farbenprächtige Reise um den Erdball mit einer Führung durch die ansehnliche Instrumentensammlung des Koblenzer Gitarristen.
Text: Rolf Beydemüller

Reinhardt, der schillerndste Name im Bereich des Sinti-Jazz überhaupt. Doch die Frage nach den verwandtschaftlichen Beziehungen der Koblenzer Reinhardts zu Übervater Django ist nicht leicht zu klären. Historie und Geschichten vertragen sich ohnehin nicht immer gut, und was in einer Kultur, die in erster Linie mündliche Überlieferung kennt und pflegt, als gesichert gilt, zerfällt unter den gestrengen Augen trockener Historiker schnell zu Staub.

Sinti und Roma leben seit rund sechshundert Jahren in Deutschland. Jahrhunderte, die dem Versuch gelten, in einem Land Heimat zu finden, das den Fremden bestenfalls argwöhnisch begegnet. Dass Hunderttausende in den Vernichtungslagern der Nazis ums Leben kamen, ist der entsetzliche „Kulminationspunkt“ dieser gemeinsamen Geschichte. Lulos Vater Bawo hat als Kleinkind mehrere Konzentrationslager (u. a. Auschwitz) erlebt und überlebt. Das Trauma der Verfolgung endet nicht mit dem Tod der unmittelbar Betroffenen. Es lebt in den Kindern und Kindeskindern weiter. Lauscht man den Erzählungen des Musikers Lulo Reinhardt, ist scheinbar nicht viel davon zu entdecken – vorerst.

„Da, wo meine Familie ist, ist meine Heimat“

Lulo erlernte das gitarristische Handwerk von seinem Vater Bawo, der mit seiner Gruppe I Gitanos in den Neunzigerjahren erfolgreich durch Europa tourte. Lulo wuchs mit dem „Zigeuner-Swing“ auf, wie er früher und leider auch noch heute von den Nicht-Sinti, den „Gadje“ (Begriff aus dem Romanes, der Sprache der Sinti und Roma) genannt wird. Die diskriminierende Verwendung des Begriffes „Zigeuner“ vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus hat dazu geführt, dass Sinti und Roma diesen Begriff ablehnen.

Reinhardt machte bereits als Zwölfjähriger Erfahrungen als Rhythmusgitarrist on tour. Doch die traditionelle Musik, die er liebte, wurde dem Heranwachsenden nach und nach zu eng. Er suchte musikalische Begegnungen, die seinem weiten geistigen Horizont entsprachen. Flamenco, Latin, brasilianische Musik, Tango – der junge Gitarrist empfand in all diesen verschiedenen „Sprachen“ ein Gemeinsames, eine Art musikalisches Esperanto. Es folgten Lehr- und Wanderjahre in den unterschiedlichsten Besetzungen, und so ist es bis heute geblieben.

„Da, wo meine Familie ist, ist meine Heimat. Ich liebe Koblenz, eine der schönsten Städte der Welt. Heimat ist aber auch in Indien.“ Der Sindh, eine der vier pakistanischen Provinzen, wird aus historischer Sicht als Herkunftsort der Sinti und Roma betrachtet. Schon seit Jahren bemüht sich Lulo leidenschaftlich um eine filmische Dokumentation, die die Wanderung seines Volkes nachzeichnen soll. Über Armenien und Ägypten soll es „zurück“ gehen, ins Tal des Indus. Bislang scheiterte das Projekt leider an der Finanzierung.

„Lulo, du bist ein Inder!“

Debashish Bhattacharya und Lulo Reinhardt begegneten sich 2017 auf einer gemeinsamen Tournee, der „International Guitar Night“, die sie mit verschiedenen Gitarristen durch die USA und Kanada führte. Den beiden war ziemlich schnell klar, dass das, was auf der Bühne so wunderbar funktionierte, als Projekt weitergeführt werden musste. Bhattacharya aus dem bengalischen Kalkutta ist der Meister der Hindustani Slide Guitar, eines erstaunlichen Instruments, das er persönlich mitentwickelt hat. Es handelt sich um eine Art Bottleneck-Gitarre mit vielen Resonanzsaiten, den Drones, die für die meisten indischen Instrumente so typisch sind. Am bemerkenswertesten ist allerdings Reinhardts Fähigkeit, sich der klassischen indischen Musik anzunähern, ohne sie je studiert zu haben. Lulo hört zu und legt los, spielt derart authentisch auf, dass sein indischer Saitenpartner ihm eines Tages überrascht sagt: „Lulo, du bist ein Inder!“ Nicht umsonst ist Reinhardt mit seinem neuen Album Gypsy Meets India auf der Vierteljahresbestenliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik gelandet und zurecht stolz darauf.

Neben Bhattacharya sind auch dessen Tochter Anandi, die im vergangenen Jahr ein vielbeachtetes Debut als Sängerin hinlegte (Joys Abound, siehe Folker 5/2018), und sein Sohn Subhasis an den Tablas Teil des Projektes. Immer an Lulos Seite ist der Drummer und Percussionist Uli Krämer, ein guter Freund seit mehr als zwanzig Jahren. Kraftvoll, virtuos und inspiriert, so darf man dieses meeting of the spirits nennen. Inspiration ist einer der Hauptbegriffe in Lulos kompositorischem Schaffen: „Wind Inspiration“, „Desert Inspiration“ oder „Western Forest Inspiration“, so einige der Titel. Es zeigt auf schöne Weise seine Fähigkeit, sich berühren zu lassen.

Während seiner Reisen, meist im Flieger, hält Lulo seine Erfahrungen fest, handschriftlich. Auf die Art und Weise sind schon mehr als tausend Seiten zusammengekommen, die irgendwann einmal ein Buch werden sollen. Das Erscheinungsdatum wird Jahr um Jahr verschoben. Ein Buch, das vermutlich Hunderte von Anekdoten und Geschichten von Begegnungen mit Menschen enthalten wird, die rasch zu Freunden wurden – kein Wunder, wenn man mit einer derart gewinnenden Herzlichkeit ausgestattet ist.

Mit der Stadt Koblenz hat Reinhardt einen Termin vereinbart. Die Umsiedlung der Koblenzer Sinti in den Siebzigerjahren wurde seinerzeit damit begründet, dass der Güterbahnhof erweitert werden müsse. Das sei bis heute nicht geschehen, sagt Lulo, und er wünsche sich, dass sie dieses brachliegende Gelände wieder zurückbekommen, das verlorene Paradies seiner Kindheit. In Newo Ziro – Neue Zeit, einem Dokumentarfilm des Kölner Filmemachers Robert Krieg (W-film, 2012), sieht man diese Orte, damals und heute, und erlebt einen großen Teil der Koblenzer Reinhardt-Familie – beim Musizieren, im Gespräch, bei privaten Festen. Hier kommt auch noch einmal Lulos 2013 verstorbener Vater Bawo zu Wort.

Lulo Reinhardt

2015 hat Lulo Reinhardt mit seinem Cousin Django ein Konzert im Konzentrationslager Dachau gegeben, dort wo der älteste Bruder des Vaters, der ebenfalls Lulo hieß, zwei Jahre in Gefangenschaft war. Solche Erfahrungen sind kaum zu vermitteln und wenn überhaupt, dann am ehesten über die große Heilerin, die Musik. So entstand „Memories Of Dachau“, ein Stück, das heute einen festen Bestandteil seines Repertoires bildet und auf mehreren Alben zu finden ist.

Den zunehmenden Rechtspopulismus und Antiziganismus bekommen auch die deutschen Sinti wieder zu spüren, schreckliche alte Slogans und Parolen werden ausgepackt und zieren hie und da sogar Wahlplakate im Landkreis. Ihn als prominenten Sinto treffe das besonders. Über Drohungen, die ihn erreichen, mag er sich gar nicht erst auslassen. Wut und Enttäuschung sind ihm ins Gesicht geschrieben.

Hier ist sie, die Verwundung. Lulo Reinhardt begegnet ihr mit einer Größe des Herzens, mit seinem Talent und mit dem klaren Auftrag, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

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lulo-reinhardt.de

Aktuelles Album: Gypsy Meets India (DMG/Broken Silence, 2019)

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Aufmacher-Foto:

Lulo Reinhardt

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