Tania Saleh
10 A.D.
(Kirkelig Kulturverksted)
LIBANESISCHER TIEFGANG – Die Sängerin Tania Saleh, die bildende Kunst studierte, stammt aus dem Libanon, dem zerrissenen Land mit schwierigen Lebensbedingungen für die meisten Bewohner. 2002 erschien ihr erstes Album. Das siebte, das jetzt veröffentlicht wurde, trägt den Titel 10 A.D. („10 Years After Divorce“) hat einen autobiografischen Bezug und verarbeitet die bedrückende Lage der Frauen in ihrer Heimat. Folglich verströmen ihre Lieder viel Melancholie. „We went to get some fresh air. / Turns out fresh air is expensive.”, singt sie im Song „Halitna Haleh“ („Wir stecken in der Klemme“) und spiegelt die Stimmung des Albums. Musikalisch ist es arabisch mit Oud und Kanun, angereichert um Drums, Kontrabass, E-Gitarre. Aufgenommen wurde das Album in Norwegen und mit einfühlsamen Streicherarrangements und Elektronikklängen verfeinert. Klanglich erzeugt das große Tiefe, verwässert aber gar nicht die arabische Orientierung. Ein ernstes Album einer starken Sängerin, das berührt.
Willi Klopottek
Sinikka Langeland
Wolf Rune
(ECM)
KONZENTRIERTE ESSENZ – Nach einigen Alben mit illustren Kompagnons wie Trygve Seim und Markku Ounaskari legt Sinikka Langeland nun ein Soloalbum vor. Sie allein mit ihrer Kantele und nicht mal in jedem Stück ihre Stimme – das ist die Essenz ihres musikalischen Kosmos, und schlichtweg ergreifend und faszinierend. Langeland gelingt das Kunststück, traditionelle und einfache Elemente einerseits mit Improvisationen andererseits so geschickt zu verschmelzen, dass die Grenzen verschwimmen. Das klingt reduziert und konzentriert, mal ziemlich karg und mal etwas saftiger. Langeland forschte als Musikwissenschaftlerin an alten überlieferten Runengesängen der Waldfinnen in der Region Finnskogen an der norwegischen Grenze zu Schweden. Sie ist jedoch auch eine Kantelevirtuosin, die diese Virtuosität nicht unter Beweis stellen muss. Auf „When I Was The Forest“ lässt sie mit dem E-Bow die Kantele fast wie eine Jouhikko klingen. Thematisch beziehungsweise textlich konzentriert sie sich auf Runen, religiös geprägte Lieder und Volkstänze zwischen Mittelalter und Moderne.
Tim Jonathan Kleinecke
Albaluna
Heptad
(Albaluna / CPL-Musicshop)
PORTUGIESISCHER ETHNO-PROG – Hörerinnen und Hörer des Albums bekommen Zeit, sich zu kalibrieren: Ein düsteres c wabert durch die musikalische Landschaft. Allmählich treten allerlei Instrumente hinzu, vornehmlich orientalische wie Oud, Bağlama und Ney, dann eine Stimme, die vom „Ende eines neuen Erwachens“ spricht, und das auf Portugiesisch. Ab dem nächsten Stück wird es richtig rockig: Schlagzeug, Percussion und Bass führen durch vertrackte Rhythmen. Die Singstimme Ruben Monteiros würde jeder Heavy-Metal-Band zur Ehre gereichen, seine Drehleier jeder Mittelaltercombo. Gefragt, wie sie ihre Musik definieren, antwortete die sechsköpfige Formation einmal, dass sie auf ihren ersten Alben mit Folk gestartet seien und inzwischen in einem Plattenladen die Kategorie Ethno-Prog für sich einführen würden. Prog bezeichnet dabei Progressive Rock, den meist epischen Stil, der in der Geschichte der populären Musik zwischen psychedelischer Musik und Punk lag. Wie auch immer: Hier wird ein Feuerwerk aus grandiosen Einfällen in ungewöhnlicher Instrumentierung abgefackelt. Das Album bleibt bis zur letzten Minute atmosphärisch, kraftvoll, virtuos und abwechslungsreich, ohne jemals zu anstrengend zu werden.
Ines Körver
Saucējas
Dabā
(CPL-Music)
VORSÄNGERINNEN – Gleich zwei CDs in einem Etui legt die lettische Gruppe Saucējas vor. Dieser Name bedeutet „Vorsängerinnen“, vor allem im Hinblick traditionellen Gesang ihres baltischen Heimatlandes. Die zehn Sängerinnen halten an der lettischen Kulturakademie die Tradition des mehrstimmigen Gesangs aufrecht. Dabei orientieren sie sich an alten Tonaufnahmen, sie suchen aber auch überall in Lettland nach Saucējas, die noch in dieser Tradition stehen und für die Sammlungen der Akademie Lieder beisteuern können. Dabā, so der Titel des Doppelalbums, bedeutet „An der Natur“, und das leuchtet ein, mehrere Lieder heißen „Frühlingslied“, es gibt Hirtenlieder, die teilweise klingen wie verzweifelte Liebesklagen (ach, Lettisch müsste man können …), dann aber auch Lockrufe, so wohlklingend, dass nicht einmal das störrischste Schaf sich da noch lange verstecken würde. Im Hintergrund hören wir bei vielen Liedern Wasser rauschen und Vögel zwitschern, perfekt für das klangliche Naturerlebnis. Die Saucējas suchen sich für die Aufnahmen gezielt Orte aus, die weit weg von Autobahnen oder Hochspannungsleitungen liegen, um dem Lärm der modernen Zivilisation zu entgehen – und um den authentischen Klang der alten Saucejas zu erreichen.
Gabriele Haefs
Celenka
Villoi Varsa
(Nordic Notes)
SCHÄTZE AUS MUSIKARCHIVEN – Selten hat das Forschen in alten Musikarchiven und -traditionen so viel Spaß beim Hören verursacht, noch nie hat eine Band mit der Instrumentenkombination Harmonium-Kantele-Trompete samt dreistimmigem Gesang ein solches Feuer entfacht. Celenka übertreffen hier noch ihre erste Scheibe und bringen ein absolutes Meisterwerk zum Klingen. Emmi Kujanpää, Eero Grundström und Jarkko Niemelä sind alle von diversen anderen Projekten wohlbekannt und haben ganz tief in karelischen und anderen finnougrischen Musikarchiven gegraben. Dabei haben sie Lieder von inzwischen vergessenen Sängerinnen und Sängern unterschiedlicher Volksgruppen wiederbelebt: Sie singen auf Finnisch, Karelisch, Wepsisch und Russisch, integrieren Einflüsse vom Balkan und slawischen Ursprungs. Und schaffen mit ihren drei Stimmen und drei Instrumenten einen sehr lebendigen, energetischen Sound. Gesang und Trompete entfachen in „Batrineasca & Lelo“ ein wahres Inferno, das abschließende „Veden Rannalla“ zeigt sie von ihrer finnisch-melancholischen Seite.
Tim Jonathan Kleinecke
Balkan Taksim
Disko Telegraf
(Buda Musique)
BUKAREST ELEKTRONISCH – Mit Rumänien verbindet man in der Regel Roma-(Blas-)Kapellen. Das Duo Balkan Taksim geht da etwas andere Wege. Der Multiinstrumentalist Sașa-Liviu Stoianovici und der Produzent und Elektroniker Alin Zăbrăuțeanu haben sich verschiedener Musiken aus Balkanländern bedient, deren Bindeglied die frühere Zugehörigkeit zum Osmanischen Reich ist. Auf Disko Telegraf wird das elektronisch aufbereitet. Die Beats und Ambient Sounds kommen aus der Maschine und bereiten das Bett für Dudelsack und verschiedene Saiteninstrumente wie eine elektrisch verstärkte Saz, eine Tanbur, eine rumänische Koboz und eine bosnische Šargija. Die Stücke repräsentieren verschiedene Regionen des Balkans wie Rumänien, Serbien, aber auch Anatolien und den Nahen Osten. Das geht ohne Brüche, eben weil es hier fließende Übergänge gibt. Wer die Istanbuler Combo Baba Zula kennt, weiß ungefähr in welche Richtung das klanglich geht. Man sollte aber gleichförmige elektronische Beats mögen, dann wird es gefallen.
Willi Kloppotek
Eva Quartet
Minka
(Riverboat/Galileo MC)
ENTSCHLEUNIGENDER HÖRGENUSS – Das vierte Album des bulgarischen Quartetts ist ein wahrer Hörgenuss. Gergana Dimitrova (Belonoga, siehe Folk Galore #1 Jun 2020), Sofia Kovacheva, Evelina Hristova und Daniela Stoichovka, bekannt auch von Le Mystère des Voix Bulgares, zeigen unter den Dirigent:innen Milen Ivanov und Vanya Moneva ihr wahres Können. Dieses fast reine A-cappella-Album ist ein sehr kurzweiliges. Die Folklorelieder aus verschiedenen Teilen Bulgariens handeln von innigen Geschichten über die Ehe und die Liebe einer Mutter bis hin zu skurrilen Begebenheiten in Sachen Faulheit und den Diskurs eines Mädchens mit einer Taube. Im Lied „Leme Dreme“ kommt eine Gadulka zum Einsatz. Sie hat die Bauform einer Schalenhalslaute, eines Streichinstruments, das oft in Nordbulgarien gespielt wird. Insgesamt helfen die vierzehn Songs des Quartetts wunderbar beim Entschleunigen.
Christian Pliefke
Perttula
Pajavasara
(Bafe’s Factory/Galileo MC)
IM RHYTHMUS DES SCHMIEDEHAMMERS – Das Akkordeon ist vielleicht derzeit das Instrument mit den größten Innovationen in der nordeuropäischen Folkmusik, wobei man diesen Begriff sehr weit spannen sollte. Denn der Tastenvirtuose Toni Perttula verknüpft auf seinem Soloalbum Pajavasara traditionelle und sehr moderne Spielweisen und Sounds. Perttula erzählt Geschichten mit manchmal weiten Melodiebögen, die über von ihm selbst programmierte Rhythmen mäandern und sich verändern, von anderen abgelöst werden und wieder auftauchen. Perttula lässt seine Electronics mal wie Trommeln, häufiger jedoch metallisch klingen: „Pajavasara“ ist der Schmiedehammer, und dieser war ihm nicht nur klangliche Inspiration. Mit „Talvenselkä“ und knackigen Beats fängt das Album gleich sehr stark an, und über weite Strecken kann Perttula dieses Niveau auch halten. Die Rhythmen sind betont einfach und wirken manchmal fast tranceartig, dadurch kann man sich ganz auf den Flow der Melodien konzentrieren. Manche kommen dem Hörenden allerdings auch bekannt vor.
Tim Jonathan Kleinecke
Multumult
Now And Then – New Sounds From An Old World
(The Lollipoppe Shoppe / Broken Silence)
EXISTENZIELL UND AUFRICHTIG – Dieses Album ist wieder einmal etwas Undefinierbares. Sobald man meint, die Musik einem Genre zuordnen zu können – sei es Weltmusik, Electro, Folktronic oder Meditation –, erklingt schon dezent, aber bestimmt ein ganz anderer Stil. Nicht einfach auch, die Stimmung für sich zu definieren – es lassen sich sowohl folkloristische Melodien und Rhythmen heraushören als auch fast kirchlich Liturgisches, das sich mit elektronischen Klängen abwechselt. Die rumänische Gruppe Multumult, angeführt von dem Multiinstrumentalisten Călin Torsan, begleitet von der Violinistin Marina Pingulescu, den Electronics von Vasile Gherghel und der E-Percussion von Marius Achim, lässt sich in keine Schublade stecken. Unaufdringlich, aber zielstrebig gehen sie ihren Weg und berühren mit ihrer Musik dabei beim aufmerksamen Zuhören auf ungewöhnliche Weise Existenzielles und Aufrichtiges. Unter bestimmten Bedingungen mag dies möglicherweise sogar in eine sogenannte Ethnotrance führen. Ist das etwas, was man in der heutigen Zeit authentisch nennen könnte?
Daina Zalāne
Monsieur Doumani
Pissourin
(Glitterbeat)
ZYPERN MODERN – Das Trio Monsieur Doumani ist die Speerspitze aktueller zypriotischer Musik, in der die alten Verbindungen zwischen griechischer und türkischer Musik weiterhin lebendig sind. Drei akustische Alben sind bisher erschienen, auf denen engagierte, bisweilen ironische Lieder von Tsouras-Laute, Gitarre und Posaune begleitet wurden. Auf der neuen Platte Pissourin hört man überraschenderweise zudem viel Elektronik. Die Experimente, die Tsouras-Spieler Antonis Antoniou auf seinem kürzlich erschienenen Soloalbum machte, hat er hier wohl mit eingebracht. Akustikpuristen wird das nicht unbedingt gefallen, aber Monsieur Doumani verlieren auf dem neuen Album nicht die Bodenhaftung. Die drei erzeugen eine dichte Atmosphäre, in der Effektgeräte und Synthieklänge die weiterhin in der Tradition wurzelnden Lieder passend anreichern, während sie erfreulicherweise nicht der Versuchung erliegen, den Rhythmus zu simplifizieren. Erneut ein sehr interessantes Album des Trios, das einmal andere Wege geht als bisher.
Willi Klopottek
Kongero
Live In Longueiul
(Nordic Notes)
MUSIKALISCHES GEWEBE – Kongero, ein nordschwedisches Dialektwort (verwandt mit estnischen und finnischen Wörtern, kangur im Estnischen bedeutet zum Beispiel „Weber“) für Spinne, ist der Name, den vier grandiose Sängerinnen ihrer Gruppe gegeben haben. Der Name ist Programm: Hier wird gewebt, geflochten, aus vielen musikalischen Strängen ein Netz gesponnen, in dem sich Hörerinnen und Hörer begeistert verfangen. Die vier Schwedinnen singen a cappella, mal temperamentvoll, mal zurückhaltend (wie bei dem Choral „Vila Stilla“). Es geht los mit einem lebhaften Lockruf, dem wohl weder Volk noch Vieh widerstehen könnten, es folgt die schmissige Kuckuckspolka, bei der wir den Vogel zu hören glauben, und so geht es immer weiter – unglaubliche Harmonien von fast nicht mehr irdischer Schönheit, viel Traditionelles, aber auch selbst geschriebene Lieder. Das Album wurde live im kanadischen Longueuil (Québec) aufgenommen, die begeisterte Reaktion des frankofonen Publikums beweist, dass bei solchen Gesangskünsten die fremde Sprache keinerlei Hindernis bedeutet.
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