30 Jahre World Music Charts Europe

Erfahrungen eines Chartsproduzenten

16. Mai 2023

Lesezeit: 5 Minute(n)

Charts sind Alltagsprodukte – heute wichtig, morgen schon Geschichte. Aber ich möchte das auch nicht zu sehr herunterspielen. Ich habe mir die World Music Charts Europe (WMCE) 1991 ausgedacht und dann 29 Jahre lang produziert – immer wieder mit Hilfe von Kollegen und Kolleginnen. Hier teile ich ein paar Erinnerungen und Erfahrungen.
Text: Johannes Theurer*

Die WMCE-Jury besteht aus Radioprogrammachern. Aber den Anfang machten nicht wir Radioleute. Das waren andere. Sie brachten Musik aus Madagaskar, Peru und Indien in Europas Tonträgergeschäfte. Nicht nur das: In den späten 1980er-Jahren ermöglichten sie sogar Welterfolge. Mit Musik aus Mali, Bulgarien, Pakistan, Israel und Guinea.

Es war die Zeit der Faxgeräte, Telefonzellen, teuren Flugtickets und ersten privat genutzten Computer. Das größte Repertoire mit vietnamesischer Musik fand man in Lebensmittelgeschäften in Paris, und Indiens Bollywood-Königin Lata Mangeshkar gab es nicht in Londons zahllosen trendigen Plattenläden sondern in Textilgeschäften im südasiatisch geprägten Bezirk Southall. Ende der Achtziger stand Musik aus dem Rest der Welt in Plattenläden plötzlich im Fach „World Music“. Genug davon, um damit ganze Radiosendungen zu bestreiten. In Belgien klangen diese Sendungen besonders karibisch, ebenso in Schweden. Bei der BBC bekam Afrika viel Platz, ebenso in Frankreich. In Italien gab es eine große Schnittmenge mit Avantgarde-Jazz, in Finnland mit Frank Zappa und King Crimson. Oft gab es Interviews und Reportagen von Festivals. Mitunter waren die Radioprogrammacher selbst als Festivalkuratoren aktiv. Als dann Ofra Haza und Mory Kanté international erfolgreich wurden, sprangen sogar die Majors auf den Weltmusikzug auf. Und manövrierten ihn aufs Abstellgleis: Nach dem Erfolg kam der Backlash. In den Hitparaden herrschte wieder nationales Mainstreamrepertoire vor.

Johannes im Einsatz.

Foto: Johannes Theurer

Weltmusik war toxisch für das Radioprogramm geworden. Das war das Problem 1991. Es stand schlecht um meine Sendung „Globus a gogo“. Also bot ich die World Music Charts Europe als Programmkonzept an. Charts mochten die Programmchefs, aber die WMCE waren anders: eine subversive Maßnahme gegen traditionelle Charts und andere Naturgewalten des Mainstreams. Eine Verschwörung. Als Keimzelle diente die Arbeitsgruppe für World Music der Europäischen Rundfunk Union (EBU), die 1990 in Berlin zusammentrat.

Mit dem Wohlwollen eines Musikfunktionärs der EBU in Genf begannen elf Programmacherinnen und Programmmacher aus elf Staaten im Frühling 1991 mit den WMCE. Jeder schickte einmal im Monat seine Liste der meistgespielten CDs und LPs nach Berlin, wo nach einem simplen Punktesystem ermittelt wurde, was wir Spezialistinnen und Spezialisten am häufigsten auflegten. Unsere Jury legitimierte sich durch die Integrität der öffentlich-rechtlichen Sender, für die wir arbeiteten und deren Namen wir uns bedienen durften, ja sogar bedienen mussten. Und der Traum wurde wahr: Weltmusik erhielt einen Stammplatz auf Chartsseiten der gedruckten Musikpresse und in Feuilletons der nördlichen Hemisphäre. Der schon abgeschriebene Trend von gestern kam als etabliertes „Weltmusikgenre“ zurück. Zu besten Zeiten (1992-1995) wurde die monatliche Liste in zwölf Staaten in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen Exemplaren gedruckt.

Milan Tesar, der „Neue“ bei der WMCE

Foto: Pavel Sanek

Unsere Radiosendungen profitierten davon, aber auch die Labels, Künstlerinnen und Künstler, Festivals und vor allem das Publikum. Denn in der gewaltigen Flut von Veröffentlichungen in dem Bereich boten die WMCE einen Qualitätscheck und gaben Entscheidungshilfe. Die Macht der journalistischen Fachleute war kolossal, trotzdem ist mir kein einziger Bestechungsversuch bekannt. Die WMCE halfen, Europa als Absatzmarkt zu erschließen. Gegenüber den Traditionen in Afrika, Asien oder Lateinamerika waren wir alle gleichermaßen „Ausländer“, denn ein afrikanischer Release in Schweden konnte genauso gut in Polen oder Ungarn oder Griechenland erscheinen. Loyale Zusammenarbeit war neu im Business. Diese Loyalität half auch der Musikmesse WOMEX auf die Beine, die ohne die WMCE-Sender kaum gegründet worden wäre oder die erste Ausgabe überstanden hätte.

Wir Radioleute trugen die Nase etwas höher, um auf uns aufmerksam zu machen. Die WMCE-Grafik war von Anfang an teuer und professionell. Über tausend Fachleute in siebzig Ländern wurden monatlich per Post mit einem Top-Ten-Dokument und einer Liste der aktuellen Jurymitglieder auf dem Laufenden gehalten. Das Geld fürs Porto kam von der EBU und von deutschen öffentlich-rechtlichen Sendern: MDR-Sputnik, Sender Freies Berlin, WDR. Und die WMCE ging vorab in einer stundenlangen Faxaussendungsorgie an Medien und Sender zur Veröffentlichung.

Foto: Johannes Theurer

Im neuen Jahrtausend wurde die Arbeit leichter. Das Internet machte den aufwendigen Postversand überflüssig. Der Branchentreff WOMEX gewann an Bedeutung und Umfang. Für den jährlichen Label-Award kämmte ich die Datensätze des laufenden Jahres nach den erfolgreichsten Firmen durch. Bei der Musikmesse Porto Musical in Recife kam jemand aus dem Amazonasgebiet auf mich zu und sagte, er warte jeden Monat auf die aktuellen Charts wie auf ein Geburtstagsgeschenk! Solche Sätze habe ich immer wieder gehört und gelesen.

Die WMCE beschäftigten anfangs eine ganze Gruppe von Leuten, später konnte ich sie alleine betreuen. Sie haben mich 29 Jahre begleitet. Sie kamen immer aus „Berlin“ – tatsächlich habe ich sie am Strand in Sri Lanka ausgerechnet, aus dem Hotel in Ufa verschickt und in Gambia die Audio-Websitelinks recherchiert. Immer um Mitternacht am 1. eines Monats startete ich den Versand von Hand. In Dakar und Dhaka, in Kabul, Shanghai, Daressalam oder Kolkata. Die Anfänge waren begeisternd gewesen, aber die Unterstützung durch die Sender der EBU ließ ab etwa 2008 deutlich nach. Ob mich das frustrierte? Ja, leider. Deshalb bin ich überglücklich, dass ein neues Team um Milan Tesař mit frischer Energie übernommen hat.

Die Charts stehen inzwischen auch als Playlist auf Spotify und Facebook. Es geht weiter. So lange es Rundfunksendungen mit weltmusikalischem Profil gibt und so lange jemand die Arbeit im Hintergrund verlässlich steuert.

* Anlässlich des Jubiläums der von ihm initiierten World Music Charts Europe lassen wir Johannes Theurer hier selbst die Geschichte dieser besonderen Weltmusikcharts Revue passieren.

Aufmacherfoto:

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Werbung

L