Keine Festivals, keine Messen, Konzerte immer noch in kleinen Dosen, kaum Treffen mit Gleichgesinnten. Es ist oft zum Verzweifeln, aber zum Glück siegen der positive Gedanke und die Hoffnung, dass es bald wieder möglich sein könnte, sich mit den verschiedensten Menschen zu treffen. Als Inhaber eines Tonträgerlabels vermisst man den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, Agentinnen und Agenten, Managern, Managerinnen und Medienleuten. Wehmütig trauert man schönen Erinnerungen nach – wie denen von einem der letzten Branchentreffs. Im September 2019 gab es zum wiederholten Mal eine Zusammenkunft in Bulgarien. In der kleinen, im Nordosten gelegenen Hafenstadt Balchik am Schwarzen Meer fand zum zehnten Mal das internationale Weltmusik-und-Kunst-Forum Without Borders statt. Gastgeber Yasen Kazandjiev, der seit einigen Jahren das Kunstnetzwerk Scenderman betreibt, hatte zusammen mit der Industrievereinigung Varna und dem Palace Balchik in den botanischen Garten der Stadt eingeladen. In dem Jahr nahmen siebzig Organisatoren, Manager, Künstler sowie ihre weiblichen Pendants aus 24 Ländern teil. An zwei Tagen gab es Abendkonzerte, an drei Tagen Konferenzen, Ausstellungen etc. Mit einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Treffens besteht weiter Kontakt und es wurden bereits mehrfach der Wunsch und das Bedürfnis zum Ausdruck gebracht, sich nach der pandemiebedingten Zwangspause in Balchik wiederzusehen. Leider jedoch verkündete Kazandjiev am 24. Februar 2021 überraschend das Ende von Without Borders, zumindest in der bekannten Form. Hätte es Folk Galore schon früher gegeben, wäre Yasen Kazandjiev sicherlich bereits früher zu Wort gekommen.
Interview: Christian Pliefke
Yasen, wann kam dir die Idee zu Without Borders?
Vor mehr als zwanzig Jahren, im ersten Sommer des neuen Jahrtausends, hatte ich meine erste Auslandstournee als junger Bandmanager der Musikgruppe Lot Lorien in Russland. Eigentlich waren wir in Sibirien, in Zentralasien. Ich besuchte Nowosibirsk und Berdsk und durchquerte Barnaul und Gorno-Altaisk. Ich war auch im Dorf Artybash am Telezker See in der Republik Altai in der Nähe der Grenze Russlands zur Mongolei, zu China und zu Kasachstan. Ein sehr energetischer Ort. Reine Natur und echter, ehrlicher Kontakt zwischen den Menschen. Zu dieser Zeit unterstützte die Soros-Stiftung das Alive-Water-Festival, wo ich zum ersten Mal an einem Ort vereint ein Zusammentreffen von Musikerinnen und Musikern, Malerinnen und Malern, Journalistinnen und Journalisten sowie Veranstalterinnen und Veranstaltern erlebte. Es war erstaunlich. In jungen Jahren, wenn man sich noch leicht inspirieren lässt, bringt einen so etwas weiter. Solche Ereignisse prägen uns sogar in dem, was wir später sind. Dort traf ich auf jeden Fall den außergewöhnlichen Menschen und Musiker Roman Stolyar, ein Mitglied des Verbands russischer Komponisten. Er gehörte zur Gruppe der ersten Musiker aus der ehemaligen Sowjetunion, die in der „Zeit der Hoffnung“ mit amerikanischen Musikern zusammenarbeiteten. Ja, es war eine Zeit der Hoffnung – sie war sicher nicht perfekt, aber man erlebte überall mehr Freiheit. Später wurde Roman zu einem guten Freund und oft gesehenen Gast meines eigenen Forums. Ich respektiere ihn sehr, und neben Lot Lorien wurden er und der Sufimusiker Latif Bolat zu so etwas wie Gründungsvätern von Without Borders.
Foto: Yasen Kazandjiev
Foto: Yasen Kazandjiev
Dennoch ist Without Borders keine bloße Kopie von Alive Water, schon 2001 hatte ich eine Veranstaltung organisieren wollen, aber mangels Finanzierung und Partnern gelang es mir erst zwei Jahre später gemeinsam mit Lot Lorien das erste Event auf die Beine zu stellen, noch in anderer Form und mit anderem Zweck. Die anfängliche Idee war es gewesen, Lot Lorien im Ausland zu promoten, weshalb es ein Konferenztreffen gab, zu dem ich viele Organisatorinnen und Organisatoren sowie Journalistinnen und Journalisten einlud – vor allem aus den Balkanländern. Ich erinnere mich daran, dass mir die erfahrene deutsche Veranstalterin Birgit Ellinghaus [Alba Kultur; Anm. Red.], die eine Kollegin und Freundin von mir ist, damals, in der Zeit, bevor wir uns bei der WOMEX in Essen 2004 zum ersten Mal trafen, schriftlich mitteilte, dass es wahrscheinlich wirtschaftlich effizienter sei, eine solche Veranstaltung zur Förderung meiner Gruppe im eigenen Land zu organisieren, als die Band zur WOMEX zu bringen. 2003 beherzigte ich diesen Ratschlag. 2008, als sich mein Weg und der von Lot Lorien trennten, bauten wir zusammen mit dem Maler Nikolay Roussev – mit dem wir auch das Kunstnetzwerk Scenderman gründeten – ein neues Konzept und eine neue Struktur des Forums auf. Der Name änderte sich von „Music Without Borders“ zu „Without Borders“, und es sind eine Menge von Veranstaltungen bis jetzt zusammengekommen. Sowohl das neue Forum als auch Scenderman gingen 2009 an den Start. Im Moment geht alles coronabedingt nicht weiter oder liegt mehr oder weniger auf Eis.
Man traf sich aus aller Welt im Jahr 2017.
Foto: Yasen Kazandjiev
Zur Verwunderung einiger, mich eingeschlossen, hast du im Februar dieses Jahres das Ende von Without Borders verkündet. Da steht natürlich die Frage im Raum, was die Gründe dafür waren?
Ich habe das Ende von Without Borders angekündigt, weil es nicht mehr möglich ist, die Veranstaltung in der jetzigen Form und mit dem bisherigen Konzept durchzuführen. Die Sache ist Vergangenheit und es ist Zeit, dieses Kapitel zu beenden. Was getan ist, ist getan. Wir fangen wieder bei null an, weil die Situation eine andere ist. Ich schaue mir die Entwicklungen in der Mobilitätspolitik genau an, denn ohne eine gute Verkehrsinfrastruktur und genaue Regeln für den Reiseverkehr ist es nicht möglich, irgendetwas auf internationaler Ebene zu planen. Ich bin mir sicher, dass wir noch lange mit dem Virus werden leben müssen, aber das Voranschreiten der Impfkampagne könnte die Situation verbessern und ermöglichen, dass neue Regeln hinsichtlich der Mobilität zum Tragen kommen. Wenn alles klarer ist, werde ich bestimmt nicht aufhören, internationale Veranstaltungen zu organisieren – mit Sicherheit wird es früher oder später wieder eine Veranstaltung geben, aber es wird nicht Without Borders sein. Nicht nur der Name wird neu sein, auch das Konzept, die Energie. Vielleicht werden auch einige neue Leute am Start sein. Die Welt verändert sich, also müssen wir uns auch verändern.
Milan Tesar, der „Neue“ bei der WMCE
Foto: Pavel Sanek
Fiel es dir schwer oder verspürtest du auch eine gewisse Erleichterung nach der Entscheidung?
Es ist durchaus hart für mich, dass Without Borders Geschichte ist, aber alles auf dieser Welt hat einen Anfang und ein Ende und wir müssen es akzeptieren. Auf der anderen Seite schmerzte es nicht so sehr wie die Dinge, die mich wirklich leiden ließen, und das war noch nicht einmal hauptsächlich der Verlust von Menschen, die seit Anfang des letzten Jahres verstorben sind, noch schmerzhafter war es, den mentalen und seelischen Zerfall vieler meiner Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen aus der Kunst- und Weltmusikwelt zu sehen. Denn am meisten haben in der neuen Zeit die Menschen aus den Bereichen der Kunst und der Veranstaltungsorganisation gelitten. Künstler und Künstlerinnen, Manager und Mangerinnen etc. Natürlich gibt es einige starke Menschen, denen es gelungen ist, das Feuer zu bewahren und die Energie auf ihre Weise umzuwandeln, aber in den meisten Fällen sehe ich Betroffene, die sehr schnell nicht nur äußerlich gealtert sind, sondern vor allem den Glanz in den Augen verloren haben und die Hoffnung und Liebe, die sie früher hatten. Das Ganze hat etwas von einem natürlichen Filter – die Welt der Künste wird sich sehr verändern, viele werden von der Bühne verschwinden, aber ich hoffe, dass die neue Zeit jetzt beginnt – sie wird anders sein, vielleicht sogar besser, wer weiß. Die neue Zeit wird eine neue Welt schaffen, die neue Welt wird neue Künstlerinnen und Künstler, Veranstalterinnen und Veranstalter hervorbringen, die den Kern der neuen Ereignisse bilden, wann immer es so weit sein wird. Die Vergangenheit müssen wir in der Vergangenheit lassen.
Magst du uns etwas über Scenderman erzählen?
Scenderman ist keine Agentur, sondern ein Netzwerk von Künstlern und Künstlerinnen, sozusagen die Miniaturausgabe von Without Borders. Eigentlich befindet sich das Netzwerk derzeit in der Warteschleife, wie viele in der Branche auf der Welt. Mit Sicherheit wird es auch hier Veränderungen und ein neues Konzept geben, die Zeit wird zeigen, in welche Richtung es sich entwickelt …
Daina von Lauska aus Lettland, seit Beginn auch in der Redaktion von Folk Galore
Foto: Yasen Kazandjiev
Du bist auch Fotograf und hast einen Hang zur bildenden Kunst …
Nach so vielen abgeschlossenen Kapiteln meines professionellen Lebens mit der und für die Kunst, bin ich zu einem freiberuflichen Fotografen und Veranstalter geworden. Die schönen Künste sind etwas, das mir sehr wichtig ist, das ich in meiner Seele habe, niemand kann es von dort stehlen, selbst nicht in einer dunklen Zeit wie jetzt. Zum Beispiel hatte ich gestern die Möglichkeit, ein Museum zu besuchen und Originalgemälde der großen spanischen Künstler Diego Velázquez und Francisco de Goya zu sehen. Es gibt keine Worte, die mein Empfinden beschreiben können. Ich glaube, die Kunst ist das Heilmittel, das wir alle brauchen.
Magst du auch ein paar Künstlerinnen und Künstler von dir vorstellen?
Im Moment habe ich die gesamte künstlerische Zusammenarbeit eingefroren. Die Website von Scenderman wurde seit Ende 2019 nicht mehr aktualisiert, aber wer sich für unsere Mitglieder interessiert, kann das Portal natürlich besuchen. Nur die Zukunft weiß, was passieren wird. Natürlich mache ich die Dinge zusammen mit meiner Lebenspartnerin Rumyana Teneva, die nicht nur ein Mensch ist, den ich liebe, sondern auch jemand der immer hinter mir steht. Es ist toll, in den dunklen Zeiten, in denen wir uns derzeit befinden, nicht allein zu sein. Deshalb suche ich nach Einfluss und Inspiration in der Geschichte, besuche ich zusammen mit Rumy viele historische Stätten und halte den Kontakt mit Kunst, Fotografie und Natur aufrecht. Es gibt nichts Besseres als frische, saubere Waldluft, sie hilft, den Kopf zu reinigen. Wir brauchen eine positive Einstellung jetzt mehr als je zuvor.
Yasen Kazandjiev
Foto: Rumyana Teneva
Aufmacherfoto:
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