Manchmal kann eine Krise auch etwas Gutes bewirken. Im Falle von Driss El Maloumi erfüllte sich während der Coronapandemie ein lang gehegter Traum. So war der gefragte Oudmeister an seinen Heimatort Agadir im Süden Marokkos gebunden, da alle Konzertreisen abgesagt worden waren. Seine freie Zeit nutzte er kurzerhand zu Beobachtungen des ihn umgebenden alltäglichen Lebens, und aus dieser Stimmung heraus komponierte er sein neues Werk. Aber nicht irgendein neues Album sollte es sein. Der Musiker erfüllte sich seinen sehnlichsten Wunsch nach einer klanglichen Erweiterung seines Trios mit zwei Percussionisten um Elemente westlicher Klassik.
Text: Christoph Schumacher
So begann die Arbeit am Album Details – arabisch „Tafassil“ –, die er in einem Telefoninterview als eine grundlegende Suche nach dem Gefühl des Staunens beschreibt, der ästhetischen Emotion irgendwo zwischen Glückseligkeit, Entzücken und Ekstase, die man beim Hören von Musik empfindet. Eine musikalische Ekstase und harmonische Kraft, die er – fasziniert von den Orchestern, die in marokkanischen Filmen erklingen – mit dem arabischen Wort „tarab“ bezeichnet.
Der 1970 in Agadir geborene Driss El Maloumi ist wahrscheinlich einer der gefragtesten Oudspieler seiner Generation, mit einer durchsetzungsfähigen und feinen Technik sowie der Komplexität und Fülle, die dieses Saiteninstrument der arabisch-andalusischen Musik auszeichnen. Während des Komponierens in der nicht ganz freiwilligen Isolation beobachtete er sein alltägliches Lebensumfeld. Er entdeckte die Macht der „Gewöhnung an die Gewohnheiten“ und griff auf Metaphern zurück, um sich in seiner Vorstellungskraft einen neuen Horizont zu schaffen im Blick auf viele charakteristische Einzelheiten – zum Beispiel der Menschen am Morgen mit all ihren Geräuschen und Gerüchen oder dem Regen, der nach langer Trockenheit von der Erde geradezu freudig aufgenommen wird. El Maloumi nahm sich die nötige Zeit, um Prioritäten neu zu setzen und inneren Frieden zu finden. Dies war das Schwierigste – und zugleich Wesentlichste –, um die Bedeutung dieser zahlreichen „Details“ im Gegensatz zum „Ganzen“ zu erkennen und hervorzuheben. In der Meditation der Stille entdeckte der Musiker Einfachheit, Zerbrechlichkeit, Zärtlichkeit, Stärke, Schönheit und übertrug all dieses detailliert in eine musikalische Sprache.
Ausgelöst durch zahlreiche Kontakte mit westlichen Musikschaffenden wie Jordi Savall oder Montserrat Figueras aus Spanien sowie vielen anderen aus unterschiedlichen Genres von Klassik bis Rockmusik, arbeitete Driss El Maloumi gut zwei Jahre an seinem Sehnsuchtsprojekt. Mit der Hilfe der beiden spanischen Arrangeure Javier Blanco und Javier Vazquez entwickelte er die Partituren für die zusätzlichen Stimmen von Streichern und Bläsern und fügte sie denen von Oud und Percussion hinzu. Stand am Anfang die Idee, Musik für ein Trio zu schreiben, das auf ein Sinfonieorchester trifft, so wurde, nachdem die Musik komponiert war, noch eine Streichquintettfassung für das Album arrangiert. Anschließend nahm zuerst El Maloumi mit seinen langjährigen Triopartnern Saïd El Maloumi – seinem jüngeren Bruder an Daf, Zarb, Udu und Cajón – und Lahoucine Baqir – an Daf, Darbuka und Req – in El Maloumis Heimatstudio jeweils die Basis zu den Titeln des Albums auf. Nach dem Ende der Pandemie reiste er dann mit den Aufnahmen nach Belgien. Im renommierten Brüsseler Studio Pyramide spielte Ende 2023 das Streichquintett unter seiner Anleitung den ihm zugedachten Teil ein.
Das Watar Quintet – bestehend aus Amèle Metlini (erste Geige), Silvia Bazantova (zweite Geige), Marie Ghitta (Bratsche), Annemie Osborne (Cello) und Adrien Tyberghein (Kontrabass) – vollendete die Ost-West-Liaison und machte sie erst zu dem Hörgenuss, der nun beim belgischen Label Contre-Jour erschienen ist. Dieselbe Agentur hatte 2008 auch schon das Trio 3MA (Madagaskar, Mali, Marokko) mit dem einzigartigen Valihaspieler Rajery, dem Koravirtuosen Ballaké Sissoko und eben dem Oudmeister Driss El Maloumi zusammengebracht. Von diesen drei Saitenkünstlern soll gegen Ende des Jahres 2025 das nächste Album folgen, allerdings auf dem französischen Label Mad Minute Music, welches bereits 2017 für deren zweite gemeinsame Veröffentlichung die Koordination übernommen hatte. Ab Oktober dieses Jahres steht aber zunächst eine gemeinsame Chinatournee an.
„Es ist wirklich wichtig, den Details des Lebens mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“
Auch für El Maloumis aktuelles Projekt Details sind 2025 Konzerte in Europa geplant. Klassikensembles, die sich mit dem Trio auf die Bühne wagen wollen, bietet er die Partituren und Arrangements an. Als Musiker, der mit Künstlern verschiedener Stilrichtungen zusammenspielt, sowie als Direktor und Lehrer am Conservatoire Municipal de Musique d’Agadir in Marokko teilt er gerne sein Wissen über die arabisch-orientalischen Einflüsse seiner Musik. Auf das Ergebnis einer solchen Kooperation konnte sich das Publikum in Estland im Februar dieses Jahres freuen. In Pärnu und Tallinn interpretierte ein einheimisches Streichquintett gemeinsam mit El Maloumis Trio das Album Details. Den Kern bildet bei solchen Auftritten stets die Oud des Marokkaners mit den beiden versierten Percussionisten.
Der starke rhythmische Bezug in dieser Musik, der auch auf den Trioalben zu hören ist, unterstreicht die unerlässliche Struktur der Kompositionen – Tempo und Phrasierung spielen als Identitätsmerkmal in der arabischen, marokkanischen Musik eine wichtige Rolle. So sieht sich Driss El Maloumi nicht als Purist, sondern als Gestalter traditioneller Musik in einem sich weiterentwickelnden Prozess, in den sich auch seine Identität einfügt. Der Grad der Präsenz von Tradition ist in seinen Kompositionen von daher eher relativ. Mit der Tradition im Rücken gestaltet El Maloumi die Gegenwart und lenkt hier besonders den Blick auf die kleinen Dinge des Alltags. In seinen eigenen Worten bedeutet das: „Ich denke, dass es wirklich wichtig ist, den Details des Lebens mehr Aufmerksamkeit zu schenken, weil wir diese Details, die den Menschen auszeichnen, zu verlieren drohen.“
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