Ich erinnere mich an die Tage, an denen ich dich küsste.
Oder die Abende, an denen du frorst.
Du hast dich fest an mich geschmiegt
und mir ein Stück meines Hemdes zerrissen.
Was für ein Augenblick der Freude.
Die See ist rauh – halt mich fest!
Ebrahim Monsefi wuchs in Bandar Abbas auf, heute eine boomende Hafenstadt an der Meerenge von Hormus und schon damals ein Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen. Sein Vater war ein Wachmann, der Mühe hatte, die Familie zu ernähren. Die Mutter sammelte Stoffreste und verkaufte diese an Frauen aus reichen Familien. Mit Musik kam der kleine Ebrahim erstmals an schiitischen Feiertagen und bei religiösen Umzügen in Kontakt, zu denen ihn sein frommer Vater mitnahm. Später begleitete er seinen Großvater häufig in den Hindutempel von Bandar Abbas. Der arbeitete dort als Putzmann. Ebrahim war fasziniert von der Atmosphäre im Tempel und den indischen Malereien. Als junger Dichter legte er sich deshalb das Pseudonym „Rami“ zu, abgeleitet von der hinduistischen Gottheit Rama. Unter diesem Namen veröffentlichte er in den Sechzigerjahren erste Texte im Literaturmagazin des Schriftstellers Ahmad Schamlou.
In seinen frühen Arbeiten thematisierte Ebrahim Monsefi häufig die prekären Verhältnisse, denen er entstammte, und sang von Hunger und Elend in seiner Stadt, die unter Hitze, Wassermangel und Tropenkrankheiten litt. Der ganze Süden Irans war in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts noch wenig entwickelt. Auch das Schah-Regime änderte daran wenig. Auf all das machte Monsefi in seinen Gedichten und Liedtexten aufmerksam.
Dunkle Nacht und ein klappriges Zelt,
zehn hungrige Leute und eine einzige leere Schüssel.
Die kleine Goli will schreiben, kann aber nicht. In ihrem Stift fehlt die Tinte.
Golis Mutter flickt ihren Schleier. In ihren Augen liegt Düsternis.
Der Kanister mit Öl ist leer, und der Nachbar kann keines mehr borgen.
Der Vater eilt mit einer Kiste vom Meer nach Hause.
Sein Rücken wölbt sich unter der Last. Sein Schmerz ist unübersehbar.
Hört man in Filminterviews alte Weggefährten über Monsefi reden, dann verlief dessen Leben niemals in geordneten Bahnen. Während seines Wehrdienstes desertierte er, gleich mehrmals, wurde wieder festgenommen und schlussendlich mit einer ärztlich diagnostizierten Depression aus dem Dienst entlassen. Einmal floh er zu einer Frau, in die er verliebt zu sein glaubte. Das Thema Liebe durchzog Monsefis Leben und Werk bis zum letzten Atemzug, meist in Form unglücklicher oder unerwiderter Lieben. Dreimal heiratete der Dichter, zweimal wurde er wieder geschieden.
Er war ein Getriebener ohne Orientierung. Viele Jahre arbeitete er als Grundschullehrer in kleinen Dörfern auf dem Land. Dreimal spielte er Rollen in Kurzfilmen des Regisseurs Hassan Bani-Hashemi. Als Schauspieler war er talentiert. Dennoch schien ihn das Leben oft zu überfordern. Hinzu kamen Schicksalsschläge wie der Tod seines damals fünfjährigen Sohnes Benyamin, der während des Besuchs bei einem Bekannten in dessen Pool ertrank. Monsefi, der auch drei Töchter hatte, litt zeitlebens unter dem Verlust.
Mein vergessener Name.
Meine verlorene Liebe, unerfüllt.
Mein Herz, im Wasser ertrunken.
Mein Leben, vom Wind verweht.
Das empfundene Leid und seinen Weltschmerz in Worte zu kleiden, war Ebrahim Monsefis große Stärke. Beim Arrangieren seiner Stücke nahm er gerne Hilfe in Anspruch. Sein Gitarrenspiel umfasste nur wenige Akkorde. Meist jammte er mit Freunden, darunter der Gitarrist und Komponist Masoud Pakdaman, der mithalf, die einfachen Melodien Monsefis für ihre gemeinsame Band zu veredeln. Häufig nahmen die Musiker ihre Sessions mit einem Kassettenrekorder auf. Manche der Bänder gingen verloren. Eine einzelne Aufnahme tauchte später in Dubai auf und wurde dort auf dem Basar verkauft. Monsefi beklagte sich darüber später in einem Interview. Andere, auch außerhalb Hormusgans bekannte Musikschaffende, wie zum Beispiel Naser Abdollahi, spielten Monsefis Lieder in ausverkauften Konzertsälen. Dem Urheber half das wenig. Gelegentlich wurde nicht einmal deutlich, wessen Song da präsentiert wurde.
Ebrahim Monsefi verstand sich mehr als Dichter denn als Musiker – auch wenn er sich bei seiner einzigen Auslandsreise, nach Spanien, von der dortigen Musik inspirieren ließ. Sein damaliges Interesse galt aber eigentlich Federico García Lorca. Europäische Popmusik war Monsefi ebenfalls nicht fremd. Den folgenden Text schrieb er zur Melodie des Songs „Girl“ von den Beatles:
Wenn es in diesem einsamen Leben keine Mädchen gäbe,
wen würden Jungen küssen?
Ohne den Schutz ihrer warmen Umarmung,
würden sie in der Einsamkeit verrotten.
Hinter deiner Burka, deinem Tschador, deinem Schleier:
Komm heraus, enthülle dich!
Löse dein Stirnrunzeln, lächle, blühe!
Verliebe dich, belebe dich!
Mädchen, Mädchen …
Dass Ebrahim Monsefis Werk nicht in Vergessenheit geriet, ist vor allem seinem Nachlassverwalter Hesam Naghavi zu verdanken. Der brachte 2005, acht Jahre nach Monsefis Tod, eine Auswahl von dessen Liedern auf einer CD heraus. 2010 folgte ein Nachschlagewerk über den Künstler.
Besonders intensiv hat sich Raha Faridi mit Ebrahim Monsefi beschäftigt. Die 1980 geborene, heute in Berlin lebende Filmemacherin, stammt selbst aus Bandar Abbas. Mehr als vier Jahre hat sie sich in Hormusgan auf Spurensuche begeben, ist nach der Jahrtausendwende mit dem Rucksack und dem fürs Filmen notwendigen Equipment von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt gereist. Getroffen hat sie alte Freunde und Weggefährten des Künstlers. Später fügte Faridi den Interviews mit diesen Zeitzeugen Filmbilder vom kargen Alltag der Menschen in ihrer Heimat hinzu. Ergänzt um weiteres bei ihren Recherchen gefundenes Ton- und Bildmaterial, schuf die Filmemacherin daraus eine kunstvolle kinematografische Collage. Ihr 2020 fertiggestellter, 95 Minuten langer Dokumentarfilm Chicheka Lullaby würdigt Leben und Werk Ebrahim Monsefis, macht aber auch deutlich, wie der unter Depressionen und Drogenabhängigkeit leidende Dichter zu einer besonders tragischen Figur der iranischen Musikgeschichte wurde.
Raha Faridis Film wird nur selten gezeigt, wenn, dann meist bei Festivals, häufig bei iranischen. Das ist schade. Für den Autor dieses Textes war der Film eine besonders ergiebige Quelle bei der Recherche. Dieser endet übrigens mit singenden und Gitarre spielenden Kindern, eingeblendet in zwei Bildfenstern im Abspann des Films. Die Kinder singen „Labkhand“, das Lied aus dem Vorspann dieses Artikels, das in Iran bekannter ist als sein Urheber. Dass ausgerechnet dieser Song das ansonsten von Schwermut durchwobene Werk des stillen Melancholikers aus Bandar Abbas überstrahlt, mag auch an einer Zeile wie dieser liegen: „Der gelbe Herbst der Vergangenheit ist vorüber, der Frühling kommt und das Leben ist schön.“ Wer will, kann daraus die Hoffnung schöpfen, dass es mit dem Regime der Mullahs doch irgendwann zu Ende gehen könnte. Viele Iraner sind dankbar für solche Botschaften, auch wenn sie aus der Feder eines bereits Verstorbenen stammen.
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