Ethno Germany

Musik, Gemeinschaft, Völkerverständigung

30. Dezember 2023

Lesezeit: 5 Minute(n)

„Listen, like this.“ Jette spielt das kleine Bruchstück Melodie noch einmal, aus der Gruppe erheben sich Klänge, teils selbstbewusst, teils verzögert, teils sauber, teils schräg. Blanche, eine der künstlerischen Mentorinnen, schaltet sich ein: „Let’s just loop this a couple of times.“ – „Lasst uns das mal in Schleife spielen.“ Nach ein paar Wiederholungen ist die Melodie klar, erhebt sich über die Gemäuer der Burgruine.
Text: Ronja Lutz

Hier handelt es sich um Ethno Germany, Teil des internationalen Projekts Ethno World der Jeunesses Musicales, gegründet nach dem Zweiten Weltkrieg zum Zweck der Völkerverständigung durch Musik. Seit über dreißig Jahren finden Ethnos statt, zuerst in Schweden und inzwischen auf allen Kontinenten der Erde. Alle sind nach dem gleichen Muster aufgebaut: Junge Menschen, meist im Alter von achtzehn bis dreißig Jahren, treffen sich für zehn Tage, bringen Musik aus einer Kultur mit, der sie sich verbunden fühlen, und erarbeiten daraus ein Programm. Dabei sind alle Beteiligten mal Teilnehmer, mal Lehrerin – es gibt keine Notenblätter, die Hierarchien sind flach. Die Mentoren und Mentorinnen stehen zur Seite, wenn es nötig ist, aber alle bringen sich ein, sei es durch eine Idee, ein Solo, einmal Dirigieren – das Endprodukt ist gemeinschaftlich.

Und doch ist jedes Camp ein Unikat. Eine Besonderheit bei Ethno Germany zum Beispiel ist, dass zusätzlich zur Musik auch Tanz ausgetauscht wird – parallel zu den Musizierenden erarbeitet eine Gruppe von Tänzerinnen und Tänzern eine Choreografie.

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Ethno Germany 2023, Abschlusskonzert in Kusel

Foto: Uli Schmidt

Wie alle Ethnos ist auch das Camp in der Westpfalz intensiv: fünfzehn Lieder und Stücke, die es sich innerhalb weniger Tage anzueignen gilt, alles nach Gehör mit etwa einer Stunde, um ein neues Stück zu lernen, und dann nach einer kurzen Kaffeepause gleich das nächste. Und doch gibt es viele Teilnehmende, die nach getaner Arbeit weiterspielen, die ihre Instrumente auf den Bergfried schleppen und bis in die frühen Morgenstunden zusammen musizieren, improvisieren, feiern. Um dann am nächsten Morgen vom musikalischen Weckdienst aus den Stockbetten gerufen zu werden. Diese Intensität ist fast ein Rausch. Sie ermöglicht, alle Filter abzuwerfen und sich direkt zu begegnen. Ehsan, ein Teilnehmer aus dem Iran, sagt: „Es ist fast, wie gemeinsam in eine Schlacht zu ziehen – wir lachen und weinen und machen zusammen diese intensiven Erfahrungen, die niemand sonst gemacht hat. Dadurch bildet sich eine Gemeinschaft – ich habe inzwischen enge Freundschaften in so vielen Orten der Welt.“

Wie viele Teilnehmende ist Ehsan nicht zum ersten Mal dabei, sondern kommt immer wieder. Bei diesem Enthusiasmus handelt es sich nicht um Einzelerfahrungen. Um die „Ethno-Magie“ zu ergründen, haben zwischen 2019 und 2022 Forschende der St John University in York eine groß angelegte Studie durchgeführt. Lee Higgins, der Leiter des Projektes, sagt: „Ich habe damals ein Ethno Camp miterlebt und war sofort neugierig, weil es einige mir bekannte Aspekte hatte, aber auch anders war – vor allem den Prozess fand ich spannend. Ich dachte mir, das sollte erforscht werden.“

Elemente wie gemeinsames Lernen und Spielen sowie zwischenmenschliche Verbindungen sind dabei als bedeutsam hervorgetreten. Und die Völkerverständigung? „Musik ist zutiefst menschlich. Wenn man also ein solches Camp veranstaltet und Musik macht, ist das in gewisser Weise ein Mittel zur interkulturellen Verständigung. Das kann für die meisten Menschen eine starke Sache sein. Nicht jeder liebt es, das haben unsere Interviews auch ergeben, aber im Großen und Ganzen ist es ein großartiges Gefühl, und die Leute bringen sich selbst ein, indem sie ihre eigene Musik mitbringen.“

„Wir bräuchten noch viel mehr Ethno.“

Mario, der Ethno Germany dieses Jahr mit der Kamera begleitet, ist überzeugt: „Wir bräuchten noch viel mehr Ethno. Auch innerhalb Deutschlands. Überall. Es gibt so viel Polarisierung, Menschen, die gar nicht mehr miteinander reden können. Ethno schafft eine Basis, auf der man wieder miteinander kommunizieren kann, egal ob mit oder ohne Worte.“

Beim Konzert schließlich kommt alles zusammen. Die Melodien aus den ersten Tagen sind noch zu erkennen, aber sie haben sich verändert. Das australische Kinderlied ist mit einem Sambarhythmus unterlegt, die flämische Fiddletune klingt auf einmal ein bisschen nach James Bond, es gibt ein jazziges Saxofonsolo und rockige Rhythmen. Beim Stück aus der Ukraine vereinen sich taiwanesische Pipa und iranische Santur und der ukrainische Kinderchor aus dem Vorprogramm bricht in Tränen und gerührten Jubel aus.

„Man pflegt Kultur dadurch, dass man sie immer wieder neu lebt.“

Klar ist: Hier geht es nicht darum, Traditionen in einer vermeintlich „reinen“ Form zu bewahren, sondern darum, etwas Neues zu schaffen. Möglicherweise pflegt man Kultur aber auch nur dadurch, dass man sie immer wieder neu lebt. Wenn man die Aufführung zum Abschluss des Ethno-Germany-Camps mitverfolgt, scheint es aber vor allem um eines zu gehen: darum, Spaß zu haben. So mischen sich die Musizierenden beim Finale zu chilenischer Partymusik unter Tanzende und Publikum und singen, tönen, tanzen gemeinsam.

Das Camp vergeht so schnell, wie es begonnen hat. Einige planen ihre nächsten Festivals und Ethnos, um dem gefürchteten „Ethno-Blues“ zu entgehen. Alle liegen sich wie alte Freunde in den Armen. „Bis nächstes Jahr?“ – „Mal sehen! Aber auf irgendeinem Ethno sehen wir uns wieder!“

Ethno Germany 2023, Abschlusskonzert in Kusel

Foto: Uli Schmidt

Info:
Ethno entstand 1990 in Schweden und ist mittlerweile in über vierzig Ländern vertreten. Seit 2013 findet die deutsche Ausgabe jährlich im August auf Burg Lichtenberg bei Kusel in Rheinland-Pfalz statt. Neben dem Haupt-Ethno gibt es seit 2022 auch das Programm Ethno Studio, bei dem Teilnehmende lernen, in einem professionellen Tonstudio ihre Stücke und Arrangements aufzunehmen und zu produzieren. Weitere Infos zu Ethno Germany gibt es unter www.ethnogermany.de sowie zu Ethno World unter www.ethno.world. Die Ergebnisse des Ethno-Forschungsprojekts sowie weitere Untersuchungen finden sich unter www.ethnoresearch.org. Ethno Germany ist ein Projekt der Jeunesses Musicales Deutschland/Rheinland-Pfalz (www.jmd.info, www.jmi.net).


Kontakt:
ETHNO Germany & Ethno Studio Germany
Projektkoordinator: Cédric Berner
E-Mail: germany@ethno.world

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Videolinks:

Teaser zum Ethno-Film, der einen lebhaften Eindruck des Camps vermittelt: www.ethnogermany.de/ethnoweb/movie-der-ethno-film
Ausschnitte aus dem Abschlusskonzert von Ethno Germany 2016 auf Burg Lichtenberg: www.youtube.com/watch?v=3sbC7QDEzZQ

Aufmacherfoto:

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