Mittlerweile ist er in der gesamtdeutschen Folkszene bekannt wie ein bunter Hund: Doc Fritz, mit bürgerlichem Namen Tim Liebert. Nicht nur als Virtuose auf der Waldzither, als Sänger und Bandchef, sondern auch als umtriebiger Initiator und Organisator. Die Liste all seiner Projekte ist lang, hinzu kommt seine ehrenamtliche Arbeit als Veranstalter, Volksliedforscher und im Profolk-Vorstand. Versuchen wir, den Überblick zu behalten.
Text: Reinhard „Pfeffi“ Ständer
Geboren und aufgewachsen ist Liebert im sächsisch-thüringischen Vogtland, wo bereits sein Urgroßvater Cellist im örtlichen Orchester war und wo im benachbarten Plauen auch die DDR-Folkszene um Jürgen B. Wolff ihren Ursprung hatte. Neben Querpfeife im lokalen Spielmannszug, Gitarre und Geige lernte der umtriebige Musiker autodidaktisch Instrumente wie Mandoline, Banjo, Bodhrán, Querflöte und Waldzither spielen. Ginster hieß mit achtzehn seine erste Band, die zunächst Deutschfolk machte, sich zunehmend aber den Dubliners und dem Irish Folk zuwandte.
„Mit Konzerten in verschiedenen Konstellationen und Workshops kommt man ganz gut über die Runden.“
Nach dem Studium der Chemie erwarb Liebert einen Doktortitel – daher der Künstlername „Doc“ –, verbrachte nach der Wende beruflich über ein Jahr in Boston in den USA und nutzte diese Zeit, um in Bands zu musizieren, beispielsweise mit der Geigerin Mary Ann McAllister. Dort kam es auch zum Namen „Doc Fritz“, dessen zweiter Bestandteil der Vorname seines Großvaters war – in den Vereinigten Staaten fand man diesen typisch deutschen Namen treffend. Zurück in der Heimat spielte er bei der Fox Tower Bluegrass Band und den Publiners und startete 1996 sein erstes Soloprojekt als Doc Fritz, aus dem später Liedermacherprogramme wie „ÜberLandFahrt“ oder „Landsicht“ hervorgingen – mit Letzterem ist er weiterhin unterwegs.
Mit den Jahren wuchs die Zahl der Projekte. Das bekannteste ist vermutlich Hüsch!, eine vierköpfige Band mit deutscher Folkmusik in weltmusikalischem Gewand, fernab von Deutschtümelei und Brauchtumspflege. Die Gruppe, in der die Waldzither eine entscheidende Rolle spielt, gibt es noch, sei aber als reines Deutschfolkensemble immer noch schwer zu vermarkten, so Liebert. Tradsch ist ein Duo mit dem Banjobauer Nico Schneider und regionalem Liedgut, meist im thüringisch-vogtländischen Dialekt. In Zusammenarbeit mit seinen Töchtern entstanden Klängels Rowell (einheimisches Liedgut) und Pauline’s Choice (Musik aus Schottland und Kanada), die nur noch sporadisch aktiv sind, da Pauline in Schweden lebt. Doc Taylor and the Redhaired Girl wiederum ist ein Trio mit Nico Schneider und der in Jena lebenden walisischen Geigerin Jenny Price, in dem oft walisisch gesungen und auch mancher Shanty angestimmt wird. Bei Doc & Josa treffen zwei Urgesteine der thüringer Folk- und Bluesszene aufeinander, um akustischen Blues zu spielen, und mit Brohmer’s Bluegrass-Session Band widmet sich Tim mit ein paar Freunden von Zeit zu Zeit der Americana-Musik. Schließlich wäre da noch die Folk Destille Jena, ein 2009 gegründetes Weltmusikorchester, hervorgegangen aus einer Fusion der Folksessionband und der Streicherformation Fist of Fiddle.
Inzwischen lebt Tim Liebert in Jena und ist seit 2015 freischaffender Musiker. „Reich wird man davon nicht, aber es ist ein großartiges Leben, und mit Konzerten in verschiedenen Konstellationen und Workshops kommt man ganz gut über die Runden“, sagt er. Den Überblick über die Menge an Projekten zu behalten, sei nicht einfach, Liebert bezeichnet sich aber als gut organisierten Menschen, was möglicherweise an seiner akademischen Ausbildung liegt. Stress hält er aus und kann sich auf sein Netzwerk an Musikschaffenden verlassen. Freilich kosten die Fahrten zu Konzerten, Proben und anderen Terminen viel Zeit. So probt er etwa mit Lind in Radebeul bei Dresden – die Ideen schicken sie sich gegenseitig per Mail zu. Was er inzwischen allerdings feststellen muss, ist, dass durch sein Engagement etwa im Verband Profolk und in anderen Bereichen es zunehmend schwierig wird, die Balance zwischen ehrenamtlicher Arbeit und dem Profimusikerdasein zu finden. Eine im Kulturbereich leider weitverbreitete Tatsache.
Zu den Höhepunkten seiner musikalischen Laufbahn zählt Liebert Auftritte beim Islay Festival in Schottland oder auf den großen deutschen Festivals der Szene wie dem Bardentreffen, dem Folklorum und natürlich in Rudolstadt – 2025 dort überaus erfolgreich mit dem Waldzitherprojekt Waldimania mit zahlreichen einheimischen Cracks an Cisterinstrumenten. Inspirierend waren für ihn dabei in all den Jahren Begegnungen mit Größen dieser Instrumentenfamilie wie Andy Irvine und Donal Lunny aus Irland oder dem schwedischen Cisterspieler Ale Carr. Als Support konnte man Doc Fritz bereits vor der Oysterband, Wolfstone oder der Bluegrassikone Dick Kimmel erleben. Als bewegendes Treffen bezeichnet Liebert auch das mit John Kay und Tom Paxton, zweier Helden seiner Jugend, bei der Folk Alliance International in Montreal 2019, wo er mit Showcases für die Waldzither unterwegs war.
Der Multiinstrumentalist gilt inzwischen als einer der wichtigsten Waldzitherexperten in Deutschland. Mehr über dieses Instrument schrieb er selbst ausführlich in folker #1.24 und kann es mit als sein Verdienst betrachten, dass es im März 2025 in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen wurde. Die Waldzither-Wochenendworkshops findet er als oft beteiligter Dozent außerordentlich wichtig, um noch mehr Musikschaffende für das Instrument zu begeistern. Es gibt sie zum Beispiel beim Folkus-Festival in Naunhof bei Leipzig, auf Burg Fürsteneck, beim Trad am See in Lehesten, den Folksounds in Elmstein, beim Spielkurs in Mühlhausen, beim Cister-Symposium in Suhl oder in mancher Musikschule.
Ebenso wichtig ist für Liebert die Tanzmusiktradition des Vogtlandes. Animiert durch Musikerkollegen und -kolleginnen wie Ralf Gehler, Vivien Zeller oder Merit Zloch besuchte er Archive wie das des Musikinstrumentenmuseums in Markneukirchen, um dort authentische Folklore zu finden, etwa die Jahn’sche Sammlung, die jetzt digitalisiert wird. Den Schwerpunkt bildet dabei tanzbare Musik, weniger die textlastig politisch-gesellschaftskritischen oder erotischen Stücke des Folkrevivals der Siebziger.
Eine weitere Initiative Tim Lieberts: Die Deutschfolkbibliothek Johanneshof in Hainichen-Bockendorf unweit Europas Kulturhauptstadt 2025, Chemnitz. Dort werden Tonträger, Bücher, Noten und Liederhefte gesammelt. Die Idee dazu entstand im Zusammenhang von Lieberts bereits erwähnter Mitarbeit bei Profolk, wo er seit 2023 zweiter Vorsitzender ist. Bereits 2019 war er in diesem Verband maßgeblich an der Gründung des Netzwerkes DeutschFolk-Initiative beteiligt. Besonders am Herzen liegt ihm dabei die Kooperation mit Landesmusikakademie und Deutschem Musikrat, um auf diese Weise traditionelle deutsche Musik zu fördern. Im Rahmen von Profolk ist er ebenso aktiv in der Organisation der wichtigen DeutschFolk-Festivals, von denen das erste 2021 im Am Vieh Theater in Beulbar nahe seiner Heimatstadt Jena stattfand, bevor es jährlich an einen anderen Ort wanderte, zuletzt 2025 als „Nord Folk Festival“ nach Hamburg. Vom 21. bis 23. August 2026 soll es wieder in Jena über die Bühne gehen. Nun wünscht sich Liebert bei den großen heimischen Festivals ebenfalls mehr Deutschfolk, auch wenn in dieser Hinsicht schon einiges passiert sei.
„Es ist mir immer wichtig, dass meine Musik die eigene Region, Land und Leute spiegelt und etwas Zeitloses hat.“
Zu seinen Aktivitäten zählen darüber hinaus auch Seminare am Sprachzentrum der Universität Weimar, bei denen ausländische Studierende über deutsche Volkslieder Sprache, Kultur und Geschichte kennenlernen, was er als sehr spannend und exotisch bezeichnet. Als wichtigstes aktuelles Projekt betrachtet Tim Liebert jedoch das Crossovertrio Lind, das er 2021 gemeinsam mit dem Rockcellisten Benni Gerlach von der Dresdener Band Letzte Instanz und dem Jazzsaxofonisten und Tubaspieler Karl Helbig gründete. Alle drei waren mehrere Jahre fester Bestandteil der erwähnten Folk Destille Jena. Liebert betrachtet Lind aufgrund der ungewöhnlichen Kombination der Instrumente als „eines der exotischsten Gewächse der neuerblühenden Deutschfolklandschaft“ oder als „sinfonischen Trad ’n’ Roll von daheim“. Auf der Basis traditioneller Musik formen die drei ein „eigenständiges Klanggebilde aus technischer Raffinesse und Musizierlust“. Dabei gibt es Bearbeitungen von Rundas aus dem Vogtland oder Tanzstücke aus dem achtzehnten Jahrhundert, deren Sound durch die Lind-Instrumentierung sehr modern wirkt.
Neben traditionellen Liedern wie etwa „De Leit“ („Die Leute“), „Mei Madel“ („Mein Mädchen“) oder dem Klassiker „Der Lindenbaum“ finden sich zunehmend auch eigene Texte Lieberts wie „Vorm Glas“ – „Ist dein Glas noch voll, ist die Welt noch schwer, / Voller Mühe und Unrast und Streit, / Dann setz dich zu mir, dann trinken wir, / Sonst werden wir alt vor der Zeit.“ Zu seinen Liedern sagt der Musiker: „Ich behandle zwar oft die großen Themen wie Glück und die Suche nach den eigenen Wurzeln oder auch Autobiografisches, aber es ist mir immer wichtig, dass es die eigene Region, Land und Leute spiegelt und etwas Zeitloses hat.“ Bestes Beispiel ist „Flut“ über die Ignoranz der Menschen gegenüber Klima und Natur: „Ich denk, es ist Zeit die Zeichen zu sehn, sonst nimmt das Unheil seinen Lauf.“ Mit Liedern wie diesen gewannen Lind 2023 den Publikumspreis des Liederfestes Hoyschrecke. Das Album De Leit erschien ein Jahr später und wurde für den Preis der deutschen Schallplattenkritik nominiert, nachdem bereits 2018 Lieberts Soloalbum ÜberLandFahrt erschienen war, von welchem es „Oles Boot“ in die Liederbestenliste schaffte. Diesen Herbst sind Lind als eine von acht Bands im Plauener Malzhaus im Wettbewerb um den Folkmusikpreis Eiserner Eversteiner angetreten, den die drei Bandmitglieder mit der Folkdestille Jena 2009 schon einmal gewannen – das Ergebnis steht noch aus.
2023 begann auch Lieberts Zusammenarbeit mit Vivien Zeller (Geige), Ralf Gehler (Dudelsack, Akkordeon) und Nico Schneider als Nord-Süd-Projekt Mecklenburg-Vorpommern plus Vogtland/Thüringen unter dem Namen „Viertour“, dessen Premiere beim vierten DeutschFolk-Festival 2024 im westfälischen Dinker zu erleben war. Weitere neue Konzepte sind in Planung, beispielsweise eine Kooperation mit Musikschaffenden der Jenaer Philharmonie und einem Electro-Techno-DJ aus Berlin mit klassischen Tanzstücken. Man darf gespannt sein, wie das beim Folkpublikum ankommt. Aber so, wie man Tim Liebert alias Doc Fritz kennt, wird auch das Hand und Fuß haben. Und: weitere Experimente nicht ausgeschlossen. An einem neuerlichen Soloalbum arbeitet er schon lange und hofft, dass es im Mai 2026 auf den Markt kommt. Auch ein Buch zur Waldzither ist fest eingeplant, und ganz neu sind die Pläne für ein europäisches Cisternetzwerk.
Aktuelles Album:
De Leit (mit Lind; CPL-Music, 2024)












Apropos Pläne für ein europäisches Cisternetzwerk:
Auch die Schweizer haben ihre Cister-Instrumente wiederentdeckt. Auch dort existieren regionaltypische Bauformen, z.B. die Toggenburger Halszither, Krienser Halszither, die Hanottere aus dem Emmental, die heute wieder nachgebaut werden.
Tonbeispiele gefällig?
https://www.youtube.com/watch?v=pxtRzXcAQAA
https://www.youtube.com/watch?v=dct2judrFvs
https://www.youtube.com/watch?v=16Kbm5NITcs
eingespielt von dem Musiker Christoph Greuter, eigentlich Gitarrist und Lautenist, auf eigenem Youtube-Kanal.