Wenn ich von meiner Begeisterung für die Folklore aus Nordmazedonien erzähle, ernte ich meist fragende Blicke. „Nordmazedonien? Wo ist das noch mal? Und zu welcher Musik tanzt du da? Darunter kann ich mir jetzt gar nichts vorstellen …“ Es ist an der Zeit, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Mit dem Ethnochoreologen Filip Arilon und dem Musiker Stojan Stojanov habe ich über die traditionelle Volksmusik in Nordmazedonien gesprochen.
Text: Daniela Höfele
Nordmazedonien liegt im südwestlichen Teil der Balkanregion und stellt mit einem Anteil von über einem Drittel albanischer, türkischer und Romni-Bevölkerung ein multiethnisch geprägtes Land dar. Eine Beschreibung aller Musikrichtungen könnte mehrere folker-Ausgaben füllen, weshalb sich dieser Artikel ausschließlich auf die Volksmusik der ethnischen Mazedonierinnen und Mazedonier konzentriert.
Zwei leidenschaftliche Vertreter dieser Musik sind der Ethnochoreologe Filip Arilon und der Klarinettist sowie Saxofonist Stojan Stojanov aus der Stadt Veles. Sie leben für die Folklore. Unter dem Motto „Connecting People With Macedonian Folk Dance & Music“ gründeten sie die Marke Folkpal und geben neben ihrem Berufsalltag in Nordmazedonien auch regelmäßig Musik- und Tanzseminare in anderen Ländern.
Stojan Stojanov spielt die Kaval
Foto: privat
Filip Arilon begann im Alter von sechs Jahren mit täglichem Volkstanztraining, das stets von einem traditionellen Musikensemble begleitet wurde. Die instrumentale Besetzung: das Saiteninstrument Tambura, die zylindrische Trommel Tapan und der Dudelsack, genannt Gajda. „Der kompakte Klang des kleinen Ensembles gefiel mir sehr, vor allem der Dudelsack hatte es mir angetan“, erzählt Arilon. „Einer der Musiker, ein älterer Herr, merkte das und begann, mich zu unterrichten.“ Inzwischen beherrscht er alle genannten Instrumente ebenso wie die Hirtenflöte Kaval und das Doppelrohrblattinstrument Zurla. Sie bilden zusammen mit dem Streichinstrument Kemane den Grundstock der traditionellen Instrumente Nordmazedoniens.
Auch der aus einer Musikerfamilie stammende Stojan Stojanov hat Kaval und Zurla in seinem instrumentellen Repertoire. Sein Fokus liegt jedoch auf Klarinette und Saxofon, zwei moderneren Instrumenten, wobei die Klarinette – zusammen mit dem Akkordeon – aus der mazedonischen Volksmusik heute kaum mehr wegzudenken ist. „Die instrumentale Besetzung hat sich im Lauf der Jahrhunderte ziemlich verändert“, erklärt Stojanov. „Mit dem Osmanischen Reich [Anfang des 14. bis Anfang des 20. Jahrhunderts; Anm. d. Red.] entwickelte sich ein neuer Stil namens Čalgija, und mit ihm kamen die Klarinette und andere Instrumente wie zum Beispiel die Violine. Neben der traditionellen Dorfmusik gab es dann sozusagen auch einen ‚städtischen‘ Stil, basierend auf der alten, dörflichen Volksmusik, aber mit neuen Elementen.“ Auch orientalische Instrumente wie die Oud und die Darbuka fanden hier Eingang. Möglicherweise sind die Wurzeln der Čalgija-Musik sogar noch älter. „Bei Ausgrabungen hat man Zeichnungen aus dem neunten Jahrhundert gefunden, die orientalische Instrumente zeigen“, weiß Filip Arilon. „Das spricht dafür, dass die Anfänge des Čalgija auch bereits in byzantinischer Zeit liegen könnten.“
Nicht nur die Instrumente der mazedonischen Volksmusik sind vielseitig, auch ihre Rhythmik ist besonders. „Wenn Menschen aus Westeuropa unsere Musik zum ersten Mal hören, ist es für sie meist sehr ungewohnt“, erzählt Stojan Stojanov. „Sie bemerken ihre Unregelmäßigkeit, ihre ungeraden Rhythmen, was es für viele erst mal schwierig macht, sie zu verstehen.“ Und das ist kein Wunder. Als häufigste Taktarten dieser traditionellen Musik gelten Siebenachtel- und Neunachteltakt. „Wir haben aber auch den Elfachtel, Zwölfachtel, Vierzehnachtel oder Achtzehnachtel“, lacht Arilon. „Es ist schon verrückt, was da in unseren Stücken passiert!“
Bei der Vorbereitung ihrer Musik- und Tanzseminare hilft oft ein Blick auf die Landkarte. Denn auch wenn Nordmazedoniens Fläche nur wenig größer ist als Mecklenburg-Vorpommern, gibt es in der Folklore deutliche regionale Unterschiede. „Wie Volksmusik klingt, hängt mit der Ethnogenese zusammen“, erklärt Arilon. „Wir haben den Fluss Vardar, der das Land als natürliche Grenze in zwei Teile teilt – den östlichen und den westlichen. Der Westen ist sehr gebirgig, hier gab es früher viele Schäfer. Die Menschen galten als ruhiger und entspannter, was sich auch in der Musik erkennen lässt. Die westliche Region sehen wir als diejenige mit der Basis der Volkstänze. Wenn man Tanzanfänger unterrichtet, beginnt man also mit Tänzen von dort. Im östlichen Teil des Landes gelten die Menschen hingegen als wilder, kämpferischer. Und auch die Musik und die Tänze sind entsprechend schneller und ‚zackiger‘.“
Auch im Gesang spiegeln sich der frühere Alltag und die Mentalität der Menschen. Die Texte handeln von universellen Themen wie Liebe, Wein und Rakija (Schnaps) oder auch von Heldenerzählungen. Hinsichtlich des Gesangsstils unterscheiden sich insbesondere mazedonische Frauenstimmen stark von denjenigen aus westeuropäischen Ländern: Durch eine spezielle Gesangstechnik klingen sie vergleichsweise kehliger und lauter. Und auch die erwähnten Unterschiede innerhalb der beiden Landesteile werden im Gesang deutlich. „Im westlichen Teil nutzt man viel Glissando und andere melodische Verzierungen“, erläutert Stojanov. „Wenn man sich das gleiche Lied dann bei Sängern aus dem östlichen Teil anhört, sind die Verzierungen viel schneller, kaum mit Glissando, ohne große stimmliche Sprünge.“
Bis heute hat die Volksmusik in Nordmazedonien ihren Platz im Alltag. Wenn auch häufig in modernisierter Form, so hört man sie doch durchaus in Cafés oder auch auf Hochzeiten. Menschen jeder Generation können die Texte mitsingen und beherrschen zumindest die einfacheren Tänze. Musik und (Kreis-)Tanz sind hier überhaupt untrennbar miteinander verknüpft: Der Begriff koncert bezeichnet sowohl ein Konzert mit Instrumenten und/oder Gesang als auch eine Tanzaufführung.
„Der größte Unterschied zwischen früher und heute ist, dass die Musik in Kombination mit den Tänzen und dem Gesang in der Vergangenheit eine bestimmte Funktion erfüllt hat“, erklärt Arilon. So seien in der Vergangenheit zum Beispiel Hochzeiten mit zahlreichen Ritualen verknüpft gewesen, deren Symbolcharakter mittlerweile verloren gegangen sei. Das bestätigt auch Stojanov, der als Solist in mehreren Hochzeitsbands tätig ist. „Früher dauerte eine Hochzeitsfeier je nach Region zwischen drei und fünf Tagen“, erzählt er. „Zuerst traf sich der Bräutigam mit seinem Paten und brachte ihn zurück zu dessen Haus. Dann holte er die Braut aus ihrem Elternhaus ab und ging mit ihr zur Kirche. Für jeden einzelnen Schritt gab es ganz bestimmte Tänze zu ganz bestimmter Musik. Heute hingegen ist man eine Stunde lang in der Kirche und feiert dann noch ein paar Stunden im Restaurant. Einzelne traditionelle Elemente finden sich dabei zwar noch wieder, aber selbst diese wenigen sind stark vereinfacht.“
Im Hinblick auf die Musik habe sich insbesondere seit den Neunzigerjahren viel verändert, sagt Stojanov. Hierzu muss man wissen, dass Nordmazedonien 1991 unabhängig von Jugoslawien wurde, was die „westlichen“ Einflüsse sicher verstärkt hat. „Heutzutage spielen wir auf Hochzeiten zwar einen Volksmusikteil, allerdings wird dieser mit sehr modernen Instrumenten umgesetzt – neben der Klarinette zum Beispiel mit Schlagzeug, Synthesizer und E-Bass“, erläutert der Musiker. „Anschließend spielen wir Popmusik. Und dann gibt es einen Programmteil, bei dem die Band traditionelle Instrumente wie Tapan und Zurla verwendet, sie aber mit modernen Instrumenten wie Schlagzeug kombiniert. Es ist eine Mischung: Man nimmt die alte Musik und gestaltet sie neu, weil sie so – insbesondere bei jüngeren Leuten – besser ankommt.“
Eine andere Gelegenheit, Volksmusik im unmittelbaren Alltag zu erleben, gibt es auf sogenannten sobori. Darunter sind feierliche Zusammenkünfte zu verstehen, die jährlich in Klöstern und teils auch in Dörfern stattfinden. „Bei uns hat jedes Kloster seinen eigenen Tag,“, erklärt Filip Arilon. „Dieser richtet sich nach dem Schutzheiligen des Klosters. Bei dem in meiner Nähe ist das der heilige Georg, sein Tag ist der 6. Mai. Die Menschen treffen sich am Vorabend, es gibt zu essen, viele machen Musik, tanzen und feiern gemeinsam in den Tag des heiligen Georg hinein.“ Dennoch könnten sich auch diese Feste der Modernisierung nicht erwehren. „Inzwischen hört man schon häufig auch Synthesizer und Schlagzeug“, sagt Arilon. „Grundsätzlich aber sind Klöster – und auch Dörfer, in denen ebenfalls der Tag des jeweiligen Schutzpatrons gefeiert wird – bis heute Orte, an denen sich Menschen treffen und gemeinsam die alten Volkstänze tanzen. Diese Tradition ist bis heute lebendig.“
Wer nun neugierig auf traditionelle mazedonische Volksmusik geworden ist, dem seien beispielsweise Aufnahmen der – leider bereits verstorbenen – Dudelsackkoryphäe Pece Atanasovski, des Sängers Stefče Stojkovski oder auch des nationalen Folkloreensembles Tanec empfohlen. Traditionelle Musik mit modernen Elementen verbinden unter anderem die Bands Ljubojna und Chalgia Sound System, von denen letztere auf dem Rudolstadt-Festival 2022 zu Gast war.
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